Ukraine-Krieg: Kapitulieren oder sterben?

Je länger der Krieg dauert, umso mehr rückt die Frage nach den Zielen des Westens ins Zentrum (Teil 1)

Philosophieren heißt sterben lernen.
Montaigne

Das einzige philosophische Problem ist der Selbstmord.
Albert Camus

Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.
Carl von Clausewitz

Es ist kein beliebtes Thema, aber trotzdem: Fragen müssen beantwortet werden, politisch, militärisch und ethisch. Sie müssen jetzt und hier beantwortet werden, wenn wir nicht wieder Entscheidendes versäumen wollen.

Zum Beispiel die Frage: Was ist eigentlich das Kriegsziel des Westens? Mit "Westen", einem Begriff, der es verdient, problematisiert und ausführlich betrachtet zu werden, ist für den Zeitraum dieses Textes einfach nur die Gesamtheit der westlichen Allianzen gemeint, also Nato, EU, das "Wir", das hier agiert. Nicht gemeint ist die Ukraine, denn die gehört keiner der genannten Allianzen an und dem imaginären "Wir" auch nur sehr begrenzt.

Für eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln

Was steht hier nun auf dem Spiel? Es ist eine ethische und moralische Forderung, den Tatsachen nüchtern ins Auge zu blicken. Anstatt sich auf bequeme gesinnungsethisch begründete Moral-Bastionen zurückzuziehen, fordert die Verantwortungsethik Realismus, also die nüchterne, interessenbasierte Wahl zwischen realistischen und tatsächlichen Perspektiven, also den voraussichtlich erreichbaren Ergebnissen, selbst wenn diese nicht wünschbar sein sollten.

Es geht also möglicherweise um die Wahl "zwischen Pest und Cholera", wie die Bundesaußenministerin dies jüngst treffend formulierte.

Das Ziel für den Westen ist fürs Erste vermutlich einfach die Beendigung der Kampfhandlungen und der Wiederbeginn der Diplomatie als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Wenn es dies sein sollte – wovon der Autor dieses Textes überzeugt ist, denn wie hieße die Alternative? –, dann müssen wir uns darüber im Klaren werden, was denn geschehen muss, um diesen Krieg tatsächlich zu beenden.

Und natürlich müssen wir für uns klären, welche Beendigung des Krieges wir eigentlich meinen und wollen. Und welche wir bereit sind, in Kauf zu nehmen: die Beendigung um jeden Preis oder eine Beendigung nur zu bestimmten, dann noch von uns zu definierenden Bedingungen – und falls diese nicht erreicht werden, die Fortsetzung des Kriegs.

Welche politischen Siege sind möglich?

In beiden Fällen ist daraufhin über die Konsequenzen des eigenen aktuellen Handelns zu sprechen. Wächst die Wahrscheinlichkeit einer Beendigung des Krieges durch die Verlängerung der Kampfhandlungen? Wann tut sie das?

Die Frage stellt sich deswegen, weil der Westen die Ukraine bereits vor dem Krieg massiv aufgerüstet und ausgebildet hat und sie nun weiterhin mit Waffen, Nachschubgütern, Transportkapazitäten und Energie, Logistik und nicht zuletzt mit Aufklärungstechnik und Wissen, inklusive geheimdienstlichem Wissen versorgt.

Der Sinn solcher Handlungen kann nur in zweierlei liegen: Entweder wir gehen davon aus, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen, also den Gegner vom größten Teil ihres Territoriums vertreiben und dieses dauerhaft militärisch sichern kann.

Oder wir gehen davon aus, dass der Krieg – unabhängig von der militärischen Lage – dadurch politisch zu gewinnen ist, dass die Kosten des Krieges für den Gegner, Russland, derart hochgeschraubt werden, dass die Regierung in Moskau nach einer nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung entsprechend einlenken und zu für uns akzeptablen Kompromissen bereit ist.

In eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung würden dann auch politisch-moralische Kosten für den Gegner, also der Rückhalt in der russischen Bevölkerung und die innenpolitischen und ökonomischen Folgen einer längerfristigen internationalen Ächtung Russlands einbezogen werden müssen – allerdings nur insofern diese Rechnungen auch in der Kalkulation des Gegners vorkommen, bzw. dieses Vorkommen wahrscheinlich ist.

In jedem Fall setzt die Idee einer solchen Kosten-Nutzen-Rechnung das Vertrauen in das rationale Agieren des Gegners voraus – ein Vertrauen, das diesem Gegner zurzeit gerade von vielen Seiten abgesprochen wird. Es stellt sich in jedem Fall also auch die Frage nach der faktischen und politischen Basis unseres Kalküls. Dafür ist es nötig, sich zwischen widersprechenden Bildern des Gegners für eines zu entscheiden.

Der Wert des Lebens im Propagandakrieg

Hinzu kommen Überlegungen danach, welche militärischen und politischen Ziele sich in der gegebenen Situation durch Kampfhandlungen überhaupt realistischerweise erreichen lassen.

Warum also liefern wir Waffen? Die Tatsache, dass wir Waffen liefern, mag das Gewissen beruhigen, und den Eindruck stützen, dass wir "was tun". Allerdings ist die Frage, was genau wir tun, wenn wir Waffen liefern? Es sind keine Deutschen, die diese Waffen gebrauchen müssen.

Weitgehende Einigkeit scheint unter den Experten darüber zu bestehen, dass die ukrainische Armee der russischen unterlegen ist. Es ist zwar evident, dass diejenigen, die einen russischen Blitzkrieg-Sieg für wahrscheinlich oder zumindest für möglich gehalten haben, falsch lagen. Zugleich ist es keine Frage, dass sich die russische Militärführung seit mindestens einer Woche auf die tatsächlichen Umstände eingestellt hat.

Noch sind sich Militär-Experten in vielem bei der Einschätzung der Lage uneins. Einigkeit herrscht allerdings in Bezug darauf, ob die ukrainische Armee in der Lage ist, der russischen langfristig standzuhalten. Sie ist es nicht. Eine ukrainische Luftwaffe ist quasi kaum vorhanden.

Die Bodentruppen sind an Kampfkraft und Erfahrung haushoch unterlegen. Die Zahl der Panzer ist im Vergleich verschwindend gering. Stark sind die Panzerabwehr-Fähigkeiten. Einstweilen gilt auch das bekannte Dictum des Kriegsphilosophen Clausewitz, nachdem ein Angreifer um sicher Erfolg zu haben, in der Truppenstärke 3 zu 1 überlegen sein muss.

Weil die Russen dies nicht sind, sondern in der Gesamtstärke der eingesetzten menschlichen Kräfte sogar unter denen der Ukrainer liegen, können diese einstweilen immer wieder punktuell standhalten und den Krieg jedenfalls in die Länge ziehen.

Für die Großstädte gilt dies voraussichtlich auch noch eine Weile länger, zumal hier die größten Chancen für die Ukraine liegen, um die Weltöffentlichkeit dauerhaft auf ihre Seite zu bringen. Denn je effektiver moderne Städte in Trümmer gelegt werden und je mehr Opfer ("Kollateralschäden") es dabei unter der Zivilbevölkerung gibt, umso tauglicher sind die entstehenden Bilder, um die Zuschauerschichten der Wohlstandsländer zu schockieren und emotional zu berühren.

Schon jetzt wird in Nachrichtenkommentaren und Talk-Showgesprächen dafür das Wort "Aleppo" benutzt, um den zukünftigen Schrecken bereits in den Hirnen des Publikums bildhaft wachzurufen.

Doch das ist alles Propagandakrieg. Nehmen wir einfach mal kontrafaktisch an, dass es tatsächlich eine Chance gibt, die Kosten des Krieges an Menschenmaterial und Finanzkraft dermaßen hochzuschrauben, dass der Gegner auf irgendeine Form von Kompromiss eingeht und sich der Krieg einhegen lässt. Lassen wir für den Augenblick dieses Textes die Frage beiseite, ob dieses Ziel realistisch ist.

Dann bleibt immer noch die zweite, unbequemere Frage: Wie viele Menschenleben ist es wert? Angenommen, es wird dort tatsächlich "unsere Freiheit" verteidigt: Wie viele Menschen dürfen sterben, weil unsere Freiheit verteidigt wird und wir "den Preis für die Russen" hochschrauben? 1000, 10.000, 100.000?

Wir sprechen in diesen Tagen viel von "unseren Werten", also von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechten. Aber entspricht es tatsächlich unseren Werten, einen Kampf, den wir selbst für verloren halten, zu verlängern?

Tatsächlich ist es vor allem überaus unbequem, insbesondere moralisch unbequem, sich einzugestehen, dass dieser Krieg verloren ist, und dass ein Ausweg aus ihm nicht durch unmittelbare Kriegshandlungen denkbar ist.

Es entspricht keineswegs "unseren Werten" eine Verlängerung der Kampfhandlungen durch politische, militärische, ökonomische und sonstige Unterstützung aller Art aktiv zu befördern. Denn damit befördern wir zugleich aktiv den Tod sehr vieler Menschen.

Es sind dies nicht in erster Linie diejenigen Politiker, die heute in sicheren Schutzständen ihre täglichen Smartphone-Filmchen drehen, in denen sie am lautesten nach Waffenlieferungen und anderer Unterstützung schreien, riskante Forderungen aufstellen, die Bürger des Westens zu Demonstrationen und Druck gegen ihre eigenen Regierungen auffordern, und versuchen, den Westen moralisch zu diskreditieren und zu diffamieren.

Denn diese Politiker werden im Zweifelsfall noch mit dem allerletzten Hubschrauber aus der "Festung Kiew" ausgeflogen, um dann ihr fragwürdiges Treiben in irgendeiner westlichen Hauptstadt im Namen einer von ihnen verkörperten Exilregierung fortzusetzen und ein bisschen De Gaulle zu spielen. Wir reden hier auch nicht von Kombattanten, die sich freiwillig zum Kampf gemeldet haben oder die durch ein Amt im Militär verpflichtet sind.

Sondern wir reden hier von jenen Männern "zwischen 16 und 60", die de facto gegen ihren Willen gerade dazu gezwungen werden zu kämpfen. Und wir reden von Frauen, Kindern und Alten, also der Zivilbevölkerung, die durch die Fortdauer der Kämpfe zwangsläufig zu einem bestimmten Prozentsatz in Kollateralschäden verwandelt werden.