"Engagierte Neutralität": So steht Österreich zur Nato

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (l.) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (Mai 2021). Foto: Ös. Bundesministerium für europäische und internat. Angelegenheiten / CC-BY-2.0

Österreich ist neutral und damit traditionell sehr zufrieden. Der Krieg in der Ukraine hat nun allerdings eine Diskussion befeuert, bei der viel geschichtlicher Staub aufgewirbelt wird

Leider muss anscheinend im Jahr 2022 daran erinnert werden, dass weite Teile Österreich 1945 durch die Roten Armee vom Naziregime befreit wurden. Es waren somit vor allem russische und ukrainische Soldaten, die damals gemeinsam gegen die Nazis kämpften und die größten Verluste aller kriegsteilnehmenden Nationen zu beklagen hatten. Die Heeresführung der Roten Armee unterlag neben Stalin maßgeblich dem ukrainischen Marschall Timoschenko.

Jahrzehntelanger Antikommunismus hat dennoch in Österreich ein Geschichtsbild verankert, bei dem "die Russen" einfach die Bösen sind. Im ORF gaben sich die Greise und Frühvergreisten (Hugo Portisch et al.) die Mikrophone in die Hand, ersparten sich die Mühe eines differenzierten Geschichtsbildes und predigten die "Rote Gefahr" versus die "Freiheit des Westens". Zusammenhänge zwischen Faschismus und Kapitalismus wurden geflissentlich übersehen.

Nun soll mit keinem Wort auch nur eines der Kriegsverbrechen der Roten Armee geleugnet werden – das österreichische Geschichtsbewusstsein tat sich nur schwer mit dem Einräumen des simplen Faktums, dass am Beginn des Zweiten Weltkrieges nun einmal ein deutsch-österreichsicher Überfall auf Polen stand, dem ein weiterer auf die Sowjetunion folgte. Die latent pathologische Externalisierung machte aus den Nazis etwas ebenso Fremdes wie es die Sowjets waren. Beides waren unterm Strich einfach böse Mächte, die dem armen Österreich Schaden zugefügt haben.

Auch so ist Österreichs Bekenntnis zu Neutralität zu verstehen. Es enthält Spuren ebendieser Geschichtsvereinfachung und den Hintergedanken, man sei neutral, weil die anderen so böse zu Österreich gewesen sind. Was intellektuell zu einem gewissen Flurschaden geführt haben mag, zahlte sich diplomatisch allerdings aus.

Österreich fährt gut "neutral"

Die Neutralität konnte geschickt genutzt werden. Die Stadt Wien ist UNO-Hauptsitz, OPEC, OSZE und weitere international bedeutsame Organisationen ließen sich gern bei Sachertorte und Fiaker nieder. Hier passte die Neutralität ideal zum touristischen Image.

Rein praktisch war dies aber nie so einfach. Österreich war ganz offensichtlich westlich und somit nie "wirklich" neutral. Es wurde keine Position zwischen den Blöcken des Kalten Krieges eingenommen, bei der auch völlig unklar wäre, wie sie hätte aussehen können. Sondern man war gesellschafts- und wirtschaftspolitisch tief überzeugt westlich, ließ sich aber eben auf kein Militärbündnis ein.

Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine ist dies nun ins Wanken geraten: Es werden Stimmen laut, die Österreich lieber in der Nato sehen würden. Die Neutralität müsse man jetzt "ernsthaft diskutieren" (ÖVP-Wehrsprecher Friedrich Ofenauer). Auch die liberalen Neos liebäugeln damit. Laut NEOS habe Österreich mit der Unterzeichnung der Verträge von Maastricht, Nizza, Amsterdam und Lissabon ohnehin schon seine Neutralität aufgegeben. Weshalb also nicht "dem erfolgreichen Militärbündnis Nato beitreten"?

Energischer Widerspruch kam sofort von den Sozialdemokraten. Die Neutralität solle nicht abqualifiziert werden, laut SPÖ-Vorsitzender Rendi-Wagner. Schließlich könne Österreich dadurch nicht aufgrund von Beistandspflichten in kriegerische Handlungen gezwungen werden.

Die Sozialdemokratin stellt den leidenschaftlichen geschichtlichen Bezug her: "Österreich entschied sich 1955 ganz bewusst, keinem Militärbündnis beizutreten - wir wollten neutral sein" und wer nun anderes fordere, der solle bedenken, die "verdrehte[n] Tatsachen" seien ein "Schlag ins Gesicht der Gründerväter unserer Republik".

Vielmehr solle eine "engagierte Neutralität" dazu dienen, eine "friedensstiftende Diplomatie" zu unterstützen. Eine klare Stellungnahme zur Verletzung von Menschenrechten und Völkerrecht sei auch gerade dadurch möglich. Die Infragestellung der Neutralität sei nun falsch und mit der SPÖ nicht verhandelbar.

Dennoch fehlt auch bei den Sozialdemokraten ein wenig das Bekenntnis, gegen den Krieg an sich zu sein. Denn wer grundsätzlich um friedlichen Ausgleich ringt, müsste – möglicherweise – in letzter Konsequenz zum Auflösen von Blöcken und Bündnissen raten, weil diese immer auch ausschließen. Insbesondere das Angebot der Nato, "Abschreckung" zu sein, hat historisch gesehen vielleicht nicht nur Erfolge zu verbuchen. Auf diese Diskussion lässt sich die SPÖ aber lieber nicht ein.

Schwieriges Erinnern

Die Neutralitätsdebatte ist aber nur ein Hinwies unter vielen darauf, dass die Erinnerungskultur in Österreich gerade etwas aus den Fugen zu sein scheint, wie zahlreiche aktuelle Äußerungen aus dem Umfeld der ÖVP belegen. Der Außenminister und kurzfristige Kanzler Alexander Schallenberg meinte etwa, die Ukraine-Krise erinnere ihn an das Jahr 1938: "Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man alleine gelassen wird."

Diese Äußerung muss erst mal verarbeitet werden, weil sie anscheinend gänzlich außer Acht lässt, dass Österreich in den 1930er-Jahren, und somit lange vor dem Anschluss an Deutschland, bereits eine faschistische Diktatur war. Auch ist eine gewisse Begeisterung für den Nationalsozialismus im Land durchaus zu belegen.

Schallenberg ruderte deshalb sogleich zurück und sprach von einem "Missverständnis", denn es gab "viel zu viele Menschen am Heldenplatz, die gejubelt haben damals." Auch vom "Opfermythos" Österreichs wolle er sich distanzieren und sein Kommentar habe eigentlich das Völkerrecht gemeint, denn damals habe bekanntlich nur Mexiko vor dem Völkerbund gegen den Anschluss Österreichs protestiert.

Den Glauben, dies sei ein revisionistischer Ausrutscher Schallenbergs gewesen, widerlegt dieser sogleich selbst, indem er weitere bizarre Äußerungen zum Ukraine-Krieg nachlegt: "Die Europäer waren vom Frieden verwöhnt. Die Europäer hatten 30 Jahre Urlaub von der Geschichte. Jetzt hat uns die Geschichte eingeholt. Der Urlaub ist vorbei."

Die antike Auffassung "alles steuert der Krieg", scheint bei einem Außenminister des 21. Jahrhunderts etwas deplatziert. Hat Schallenberg die Hoffnung auf friedliche Politik beerdigt? Freut er sich insgeheim, dass es wieder losgeht und Geschichte mit der Panzerfaust geschrieben wird?

Erstmals hatte mit Karl Nehammer ein ÖVP-Kanzler das Wort "Austrofaschismus" in den Mund genommen. Die Volkspartei, die bis vor kurzem noch ein Gemälde von dem Faschisten Dollfuß in der Parteizentrale hängen hatte, optierte immer wieder für die bequeme Opferrolle Österreichs, die eigene Verbrechen leugnet. Nehammer war hier um einen Neubeginn bemüht, der sich bei Parteikollegen noch nicht herumgesprochen haben dürfte.

Denn Nehammers Parteifreund, der erste Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ärgerte sich jüngst über die "Vorverurteilungen" gegen ihn. Es gibt nämlich gerade einen weiteren Untersuchungsausschuss im österreichischen Parlament, der sich dem Dauerthema "Korruption in der ÖVP" widmet.

Dem Nationalratspräsidenten gehört nominell der Vorsitz des Ausschusses, allerdings hatte Sobotka im letzten U-Auschuss zur Ibiza-Affäre nach Einschätzung der Parlamentarier alles getan, um die Ermittlungen gegen die ÖVP zu behindern. Deshalb wurde seine Vorsitzführung nun in Frage gestellt. Sobotka fasste seinen Zorn darüber mit den Worten zusammen: "Das haben wir schon einmal gehabt – 1933."

Damals war in Österreich das Parlament von dem austrofaschistischen Diktator Engelbert Dollfuß ausgeschaltet worden – und heute soll das gleiche passieren, indem Sobotkas Vorsitz in Frage gestellt wird? Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Sobotka relativierte ihn nach Protest aus nahezu allen Fraktionen: "Es ist in der Dimension natürlich nicht vergleichbar, aber formal der Sache nach."

Einmal ins Fahrwasser eigentümlicher Vergleiche geraten, legte der Nationalratspräsident nach und äußerte sich zur Ukraine. Sobotka: "Die Ukrainer müssen in der Ukraine bleiben und letztlich ihr Land verteidigen. Was wäre gewesen, wenn alle Österreicher nach 1945 geflohen wären?"

An der Stelle beginnt sich manchem im Publikum der Kopf zu drehen. Was will Sobotka damit sagen? Vergleicht er die damaligen Befreier Österreichs, die Armeen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und eben auch die Rote Armee der UdSSR mit dem heutigen Russland Putins? Und war Österreich damals in der gleichen Rolle wie die überfallene Ukraine heute?

Bei der Geschichtsauffassung der ÖVP geht es aktuell drunter und drüber. Es ist unklar ob manche die Stunde gekommen sehen um gewisse Dinge ins "rechte" Licht zu rücken oder ob sie schlicht aufgrund der dramatischen aktuellen Ereignisse überfordert sind. Nur sollte auch in der ÖVP weiterhin zumindest unmissverständlich klar sein, dass der Nationalsozialismus ein Verbrechen war.

Kommen nun alte Traumata zum Vorschein?

Die Neutralitätsdebatte wird somit sicherlich von der falschen Seite befeuert, wenn die bereits als politisch geklärt geltenden Sachverhalte in die Diskussion zurückgeholt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass hier tief sitzende Kriegstraumata aufbrechen. Die bisherige Geschichtsbewältigung mit Schmusedecke und Zuckerguss rächt sich, denn wer sich den eigenen Verbrechen nur zögerlich gestellt hat, entwickelt leicht revisionistische Affekte.

Der Ex-ÖVP-Nationalratspräsident und "Architekt" der ÖVP-FPÖ-Koalition Wolfgang Schüssels, Andreas Khol warnte: "Ein neutraler oder bündnisloser Staat bleibt allein, wenn er angegriffen wird". Er gibt damit ein weiteres Beispiel dafür, wie die aktuellen Ereignisse genutzt werden, um langgehegte Sorgen oder vielleicht auch Wünsche zu artikulieren, die bislang nicht opportun waren.

Fraglos und berechtigterweise sitzt der Schock des Überfalls russischer Streitkräfte auf die Ukraine tief. Ist es deshalb aber gerechtfertigt Kalte-Kriegs-Paranoia zu bedienen und Dammbruchhypothesen zu verbreiten? Einerseits ist der Aufschaukelungseffekt gefährlich, andererseits sind Sorgen im Baltikum vielleicht etwas weniger abstrakt als österreichische Einmarschbefürchtungen.

Diplomatisch gesehen wäre den nicht unmittelbar im Kriegsgeschehen beteiligten Ländern zu empfehlen Ruhe zu bewahren. Sie sollten sich solidarisch zeigen mit den Geflohenen. Hier kann Österreich viel tun und tut es auch, abweichend von seiner früheren harten Linie gegen Flüchtlinge. Ansonsten gilt es deeskalierend zu agieren, was in einem besonnen Moment auch dem 1941 in Pommern geborenen Andreas Khol bewusst sein dürfte.