Der kurze Weg von der politischen Lüge zur Gewalt

Wie ein roter Faden zieht sich die Mesalliance aus Lüge und Politik durch die Kulturgeschichte. Gesamtgesellschaftliche Verwerfungen, politische Entropie und sogar Kriege sind die Folgen

Lüge, Betrug und Täuschung zählten einst zum politischen Standardrepertoire antiker Diktaturen. Vermutlich schreiben sich diese Phänomene bereits vom Beginn der frühesten Hochkulturen her. In den homerischen Epen der Ilias und Odyssee etwa wimmelt es vor Täuschungsmanövern, Listen und Lügen in sämtlichen Schattierungen. Über Odysseus schreibt Homer:

Vielerlei log Odysseus zusammen und nur manches war ähnlich der Wahrheit.

Auch die Führungsschichten Roms waren lügendurchtränkt: Iulius Caesar etwa täuschte systematisch, indem er seine Rechenschaftsberichte über die Kriege, die bekannten Commentarii de bello Gallico, nicht als objektive Kommentare verfasste, sondern zwecks Selbstdarstellung beträchtlich idealisierte. Cicero log, indem er seine Gerichtsreden im Nachhinein schriftlich und beschönigt veröffentlichte, kaum jemals so, wie er sie gehalten hatte.

Und besonders Kaiser Nero log, dass sich die Balken bogen, um von den Gerüchten abzulenken, er hätte den Brand Roms selbst gelegt. Er beschuldigte die damalige Sekte der Christen der Brandstiftung, wodurch diese verfolgt und etwa ein Zehntel der christlichen Gemeinde Roms ermordet wurde.

Augustus betrog, indem er die Republik formal neu begründete, jedoch als Primus inter Pares weiterhin mit sämtlichen Vollmachten herrschte. Völlig desillusioniert vermerkte dazu Tacitus:

Es fand sich nach dem Wandel der Staatsform nirgendwo mehr ein Rest an sauberer Staatsgesinnung.

"Prawda": ein leeres Wort?

Das zentrale Charakteristikum der Lüge war und ist, dass derjenige, der lügt, weiß, dass er die Unwahrheit sagt. Dies unterscheidet die Lüge vom Irrtum. Von politischen Sonderdeformationen wie notorischen Lügnern abgesehen, die nur gelegentlich oder versehentlich die Wahrheit sagen, besteht das zweite wesentliche Kriterium der Lüge in der Absicht zu täuschen.

Wenn gegenwärtig in der Ukraine ein vonseiten der russischen Staatsführung angeordneter Angriffskrieg tobt, dabei Massentötungen der Zivilbevölkerung in Kauf genommen werden und danach die immer gleiche Dramaturgie an Schuldzuweisungen vonseiten der Angreifer erfolgt, zeigt dies auf erschreckende Weise, dass offenes Lügen aufgrund von machtpolitischen und geostrategischen Interessen einen integrativen Bestandteil der politischen Praxis bildet.

Ein solches Überbordwerfen jeglicher Moral beschrieb der politische Staatsphilosoph Machiavelli bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Florenz. Seine Hauptwerke Discorsi und Il Principe handeln von Machtpolitik sowie den verschiedenen Wegen und Mitteln, um an die Macht zu gelangen und diese zu erhalten.

Trotz humanistischer Ausbildung hatte Machiavelli ein sehr pessimistisches Menschenbild. Der Mensch bestünde fast zur Gänze aus Lüge, er sei heuchlerisch, habgierig und hinterlistig. Das seien auch die maßgeblichen Steuerungskriterien für sein politisches Handeln.

Machiavelli ist aus der Lebensrealität des 16. Jahrhunderts zu lesen, wenn er pragmatisch feststellt, dass die Mehrzahl der Fürstentümer zwischen Mailand, Florenz und Rom durch Lüge, Meineid, Betrug und Gewalt an die Macht gekommen seien.

Seiner Ansicht nach seien moralische Haltungen und Überzeugungen etwas für die Privatsphäre, im öffentlichen Leben und in der Politik sollten diese nur untergeordnete Rollen spielen. Und erschienen gegebene Versprechen und Verträge nicht mehr einhaltbar, müsse der Machthaber amoralisch handeln und "ohne Bedenken Verbrechen begehen."

Nach außen müsse er jedoch rechtschaffen wirken, da die Mehrheit der Menschen sich belügen lasse und nur nach dem äußeren Schein urteile.