"Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben"

Diskussionen zum Sonderstatus von ukrainischen Kriegsflüchtlingen, moralische Doppelstandards und der soziale Friede in Deutschland - Interview mit Gerhard Trabert

Wenn eine Gesellschaft nicht für sozialen Frieden sorgt, dann ist sie genauso gefährdet wie von außen durch einen Despoten.

Dieser Zwischenruf von Gerhard Trabert mag angesichts der russischen Invasion in die Ukraine unpassend klingen. Aber Prof. Trabert weiß sehr genau, wovon er spricht.

Als Arzt ist er seit über zwanzig Jahren bei Hilfseinsätzen in Krisen- und Kriegsgebieten unterwegs. Parallel dazu leitet er in Mainz den Verein Armut und Gesundheit, der sich um die Versorgung obdachloser Menschen kümmert.

Im Bundestagswahlkampf 2021 sowie bei der Bundespräsidentenwahl 2022 trat er als parteiloser Kandidat für Die Linke gegen Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier an. Telepolis sprach mit ihm über seinen Hilfseinsatz.

Herr Trabert, Sie sind eine Woche nach Ausbruch der Kriegshandlungen mit Ihrem Arztmobil ins polnisch-ukrainische Grenzgebiet gefahren. Was können Sie von diesem Hilfseinsatz berichten?

Gerhard Trabert: Wir waren zu viert unterwegs, eine Krankenschwester, ein Krankenpfleger, ein Arzt und ich. In Lwiw (Lemberg; West-Ukraine) gibt es eine sogenannte Armenküche, die wir seit zehn Jahren unterstützen. Die dortige Leiterin hatte uns geschrieben, dass sie einiges an Material benötigt, weil jetzt viele geflüchtete Menschen dorthin kommen.

Auch wenn es bis dahin noch keine Kampfhandlungen in Lwiw gab, hatten wir eine Übergabe der Schlafsäcke, Isomatten, Medikamente und vieles mehr an der Grenze verabredet. Später bekam ich Nachricht, dass bei Lwiw acht Raketen eingeschlagen wären.

Die Welt ist ja bekanntlich klein, und so trafen wir vor Ort zufällig die italienische Organisation "Inter SOS", mit der wir bereits in Sizilien bei der Geflüchtetenversorgung zusammengearbeitet haben. Die nahmen uns mit zu einem Aufnahmelager für 2.000 Menschen in Korczowa.

Unser Arzt und der Krankenpfleger sind 14 Tage da geblieben. Die Krankenschwester und ich sind früher zurückgefahren, weil ich meine Einladung bei Bundespräsident Steinmeier wahrnehmen wollte. Bei Bedarf werden wir wieder hinfahren.

Wie kam es zu dieser Einladung?

Gerhard Trabert: Herr Steinmeier hatte mich in seiner Rede direkt nach der Bundespräsidentenwahl im Februar öffentlich zur Zusammenarbeit beim Thema Obdachlosigkeit eingeladen und hat mir dann tatsächlich einen Termin geschickt.

Wie lief die Arbeit Ihres Teams in Korczowa?

Gerhard Trabert: Dr. Basrawi und sein Mitarbeiter Tobias Streer arbeiteten in 12-Stunden-Nachtschichten. Pro Nacht mussten bis zu 200 Patientinnen behandelt werden, und es kamen zunehmend Menschen mit Kriegsverletzungen an. Durch Granatsplitter hervorgerufene Wunden müssen adäquat behandelt werden, sonst gibt es schnell eine Sepsis.

Dr. Basrawi ist Syrer. Er ist bei unserem Verein angestellt und ich hatte ihn auch deshalb gebeten mitzukommen, weil er, wie viele Syrer, Russisch spricht. Vor Jahren war er selbst mit drei Kindern auf der Flucht, und jetzt hatte er die Gelegenheit, in einem zweiwöchigen Hilfseinsatz geflüchtete Ukrainer medizinisch zu versorgen.

Warum werden syrische Kriegsflüchtlinge anders behandelt als ukrainische Kriegsflüchtlinge?

Als syrischer Kriegsflüchtling hatte er damals mit größeren Widerständen zu kämpfen als die ukrainischen Kriegsflüchtlinge heute…

Gerhard Trabert: Das ist ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben. Aktuell hängen immer noch Tausende Syrer, Irakis, Afghanen unter erbärmlichsten Bedingungen an der belarussisch-polnischen Grenze fest und werden nicht in die EU gelassen. Diese fast vergessenen Menschen erfahren nicht ansatzweise die Unterstützung, die ukrainischen Kriegsflüchtlingen zuteilwird.

Haben wir für ukrainische Europäer ein anderes Solidaritätsempfinden, weil sie weiße Europäer sind? Es gibt Hinweise, dass dunkelhäutige Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Schwierigkeiten haben, über die Grenze nach Polen zu kommen. In Polen wurde uns berichtet, dass Afrikanern, die als Studierende nach Kiew gekommen waren, der Grenzübertritt verwehrt worden sein soll. Laut Augenzeugenberichten sei es in Polen sogar zu rassistischen Übergriffen gekommen auf afrikanisch-stämmige Kriegsflüchtlinge.

Wir selbst wollten schon vor Monaten mit unserem Arztmobil ins belarussisch-polnische Grenzgebiet fahren. Aber es war schnell klar, dass aufgrund von Verboten polnischer Behörden keine Chance besteht, durch die eigens eingerichtete Sperrzone zu den Geflüchteten zu kommen. Also mussten wir diesen Plan aufgeben.

Auch unsere rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin hat unlängst den Sonderstatus von ukrainischen Kriegsflüchtlingen betont.

Gerhard Trabert: Ich finde das höchst problematisch. Menschen aus der Ukraine sollen beispielsweise sofort Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, was sehr zu begrüßen ist. Aber warum werden syrische Kriegsflüchtlinge anders behandelt als ukrainische Kriegsflüchtlinge? Das ist in meinen Augen zumindest eine latente Form von Rassismus.

Moralische Doppelstandards sehen wir aber auch in anderen Bereichen. Zurzeit wird Erdogan hofiert, weil er als Vermittler im Russland-Ukraine-Krieg geeignet scheint. Aber genau derselbe Erdogan führt als Nato-Partner einen Angriffskrieg gegen die Kurden in Nordsyrien. Unser Verein unterstützt dort ein Krankenhaus, das ich mehrfach besucht habe. Dieses Krankenhaus wurde mittlerweile von der türkischen Armee und den Milizen, mit denen die Türkei zusammenarbeitet, teilweise zerstört.

An der Einhaltung der Menschenrechte müssen sich alle messen lassen. Nicht nur Putin.

Keine generelle Verurteilung von Menschen aus kriegsführenden Nationen

Aber erstarkt in Kriegszeiten neben dem Rassismus nicht vor allem der Nationalismus?

Gerhard Trabert: Ja, sicher. Und deshalb sollte man gerade in Kriegszeiten niemals generalisieren und eine gesamte Nation in Schuldhaftung nehmen. Es ist nicht das russische Volk, es ist auch nicht das türkische Volk, sondern es sind allem voran die Putins und die Erdogans dieser Welt, die mit ihrem Gefolge aus Militärs und Politikern die Hauptverantwortung tragen.

Kürzlich hatte mich eine Schule als Referent angefragt. Wie mir berichtet wurde, sind dort Schüler Anfeindungen ausgesetzt, nur weil sie russischer Herkunft sind.

Was wir gerade in der Ukraine erleben, ist vielleicht keine Sache von Wochen und Monaten, sondern von Jahren. Eine Willkommenskultur als Strohfeuer, und nur für Angehörige ausgewählter Nationen, würde da viel zu kurz greifen.