Die Welt ist in der Ukraine-Frage gespaltener, als sie scheint

Fakten statt Thesen: Der Westen in der eigenen Echokammer – aus dem Krieg des Nordens könnte der globale Süden Kapital schlagen

Your enemies are not our enemies.

Nelson Mandela

Die Schlagzeilen in der westlichen Presse sprechen eine klare Sprache: "Die Welt ist geeint gegen Russland"; "Russland isoliert"; "Es gibt keinen Ausweg gegen die Sanktionen"; "Alle gegen einen" – so oder so ähnlich titelten Medien des Westens im letzten Monat immer wieder und noch einmal in der vergangenen Woche, als die Uno-Generalversammlung mit klarer Stimmenmehrheit am Donnerstag den Zugang zu Hilfsgütern und den Schutz der Zivilbevölkerung in der Ukraine forderte und Russland für die Schaffung einer "katastrophalen" humanitären Situation nach dem Einmarsch Moskaus in das Nachbarland kritisierte.

"Die Uno-Vollversammlung isoliert Russland ein weiteres Mal überwältigend", titelte dazu die britische Nachrichtenagentur Reuters.

Selbstbetrug des Westens oder gibt es objektive Gründe für dieses Urteil?

Die Botschaft ist klar: Politisch ist Russland isoliert und wirtschaftlich zieht sich die Schlinge um die Russische Föderation immer enger zu. Kurzfristig sind die Folgen erheblich, mittelfristig hat Russland keine Chance, als wirtschaftlich in die Knie zu gehen.

Nach nur vier Wochen wird die diplomatische Niederlage des Westens, die der russische Angriff auf die Ukraine besiegelte, in den politischen Erklärungen der Institutionen und in den Medien des Westens zunehmend in einen Sieg umgedeutet: Der Angriff sei ein "notwendiger" "Weckruf" gewesen, war beispielsweise aus dem Europaparlament zu hören. Auf allen Ebenen ist vom Umdenken die Rede. Medien erkennen eine "Kehrtwende" und behaupten "weltweite Solidarität" für die Ukraine. Ist das purer Selbstbetrug des Westens oder gibt es objektive Gründe für dieses Urteil?

Nun sollen die Sanktionen und ihre Folgen nicht kleingeredet werden. Es soll auch nicht die Diplomatie kleingeredet werden oder die symbolische Wirkung, die das nicht-bindende und nicht-sanktionierbare Votum der Uno-Generalversammlung hat.

Rechnen wir mit dem "Worst Case" aus Sicht des Westens

Umgekehrt aber sollte man die Dinge aber auch nicht größer machen, als sie sind. Hieß es nicht unmittelbar nach dem 24. Februar gerade vonseiten der langjährigen Unterstützer der ukrainischen Regierungsposition, dass man sich im Westen Illusionen gemacht habe?

Da kann nicht jeder widersprechen, der in den letzten Monaten Verständnis für die Positionen und Interessen Russlands aufbrachte und dies von anderen forderte – gerade auch weil man mit mehr Verständnis, gepaart mit einem illusionslosen Blick und einer anderen Politik den russischen Angriff und die ganze Fehlentwicklung der russisch-westlichen Beziehungen im letzten Jahrzehnt womöglich hätte vermeiden können. Und, weil ohne ein solches gegenseitiges Verständnis auch in jenem "neuen Kalten Krieg", der jetzt allerorten ausgerufen wird, nichts zu gewinnen sein wird.

Versuchen wir also, uns diesmal keine Illusionen zu machen. Versuchen wir, das zu tun, von dem die Falken des Westens seit Langem behaupten, dass sie es seit jeher täten: Rechnen wir mit dem "Worst Case" aus Sicht des Westens.

Die Repräsentanten von über der Hälfte der Weltbevölkerung folgen dem Westen nicht

Tatsächlich stimmten am Donnerstag 140 Staaten für die Resolution, nur vier Staaten unterstützten die russische Gegenposition. 38 Staaten allerdings enthielten sich der Stimme, weitere 10 waren bei der Abstimmung gar nicht anwesend. Für die Resolution stimmten also immerhin 72,54 Prozent der abstimmenden Staaten.

Bemerkenswert war dabei, dass mit Serbien ein traditioneller Verbündeter Moskaus für die Resolution stimmte. Dass sich unter den Abwesenden mit Venezuela ein Staat befand, der einerseits als langjähriger US-Gegner gilt, andererseits als wichtiger Öllieferant in der künftigen Ölwirtschaft ohne Russland wieder neu ins Spiel kommt. Abwesend blieb der Abstimmung mit Marokko auch ein wichtiger Verbündeter des Westens. Schon hier differenziert sich das Abstimmungsverhalten erheblich.

Ein ganz anderes Bild der Lage ergibt aber vor allem der Blick auf die Bevölkerungszahl und die Regionen, die durch die Abstimmung repräsentiert werden.

Die Weltbevölkerung umfasst derzeit gut 7,9 Milliarden Menschen. Zu jenen Staaten, die nicht mit den Nato-Verbündeten für eine Verurteilung Russlands stimmten, gehören drei der fünf bevölkerungsreichsten Staaten, zehn der 25 bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, 19 afrikanische Staaten gehören dazu, vier Atommächte oder gar sechs, je nachdem, wie man die technischen Fähigkeiten von Nordkorea und dem Iran in dieser Hinsicht einschätzt.

Die Bevölkerungszahl jener, die nicht gegen Russland stimmten, liegt bei über 4,18 Milliarden Menschen – wir sprechen hier also von weit über der Hälfte der Weltbevölkerung, deren Repräsentanten der Position des Westens nicht folgen.

Wie gesagt: Man sollte realistisch bleiben. Dies bedeutet, dass man diesen Befund in beide Richtungen lesen muss.

Man wird einerseits darauf blicken müssen, dass jene Staaten, die gegen Russland stimmten und die Position Washingtons und seiner Verbündeten unterstützten, auch jene Staaten sind, die in nahezu allen modernen Technologien, egal, ob militärisch oder friedlich, egal, ob es sich um alte und klassische Industrien handelt, um Mobilität oder um Computertechnologie, um die neuen Energietechnologien oder um Konsumgüter, die klare Vormacht besitzen.

Von den allermeisten dieser bedeutenden Technologien sind auch die Nicht-Sanktions-Staaten abhängig. Die Staaten, die Russland sanktionieren, erwirtschaften etwa zwei Drittel des weltweiten Bruttosozialprodukts.

Auf der anderen Seite repräsentieren die großen Bevölkerungszahlen auch große Kundenzahlen, die in einer kapitalistischen Weltwirtschaft ein wesentlicher Faktor sind.

Und sie sind im Besitz der meisten Bodenschätze. Von den zehn Staaten der Erde mit den wertvollsten Bodenschatz-Vorkommen liegen sieben im Globalen Süden. Nur die USA, China und der Rohstoffgigant Russland liegen im Norden.

Unter den anderen sind mit dem Iran und Venezuela zufälligerweise zwei "Lieblingsfeinde" der USA. Und auch der Irak. Schon zur Zeit des Golfkriegs wusste man, worum es tatsächlich ging: um Öl.