"… kann aber nicht billigen, dass Putin dadurch zum Verbrecher geworden ist"

Straßenszene in Butscha, nördlich von Kiew. Bild: Ministry of Digital Development, Mikhail Fedorov

Peter Vonnahme über die mediale und öffentliche Haltung zum Ukraine-Krieg, doppelte Standards und was das mit unserer Rechtskultur zu tun hat

Herr Vonnahme, Sie haben sich in zwei Texten für Telepolis mit Russland und der Ukraine befasst. Vor allem aber Ihr Beitrag zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat teils heftige Reaktionen provoziert. Haben Sie damit gerechnet?

Peter Vonnahme: Ja, das war zu erwarten. Ich habe nämlich in zwei Beiträgen zu Putin und Selenskyj Positionen vertreten, die vom politischen und medialen Mainstream abweichen. Seit Wochen lebt der öffentliche Diskurs nur noch von radikalen Vereinfachungen: Putin ist das Böse schlechthin, er ist Alleinschuldiger am Ukraine-Krieg.

Immerhin hat er angegriffen.

Peter Vonnahme: Aber die Frage, ob dieser Krieg eine Vorgeschichte hat, spielt keine Rolle mehr. Hauptsache ist, Russland wird streng bestraft. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verstieg sich mit Blick auf beschlossene Sanktionen sogar zu dem Satz: "Das wird Russland ruinieren." Selbst wenn es so wäre, was würde uns das nützen? Nichts! Egal, Hauptsache, das Feindbild Putin wird aufpoliert. Die Lage ist bizarr.

Sie haben sich in einem Teil ihres Selenskyj-Textes zugleich kritisch mit der bedingungslosen Solidarität mit dem Präsidenten befasst.

Peter Vonnahme: Ja, denn auch ein Blick auf die Gegenseite belegt in meinen Augen die Einseitigkeit: Selenskyj steht für das Gute. Er hat einen Freibrief, er darf alles. Er darf Deutschland verunglimpfen und unwidersprochen sagen, Deutschland denke nur an "Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft".

Peter Vonnahme, von 1982 bis 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München, Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA).

Er darf mit seinen hemmungslosen Waffenforderungen sogar den Weltfrieden gefährden. Egal, er kämpft für sein bedrängtes Land und vor allem gegen Putin.

Deshalb ist Selenskyj ist der absolute Held unserer Tage, gewissermaßen Gary Cooper, John Wayne und Charles Bronson in einer Person. Politik und veröffentlichte Meinung haben sich für einfache Bilder entschieden. Damit haben sie eine bisher nicht bekannte Hysterie ausgelöst.

Wer gegen diese Klischees von Gut und Böse anschreibt, braucht sich nicht zu wundern, dass er heftige Diskussionen auslöst.

Darin steckt ein schwerer Vorwurf gegen die Presse und gegen die Fernsehanstalten. Können Sie das näher begründen?

Peter Vonnahme: Nach dem deutschen Pressekodex sind die Achtung vor der Wahrheit und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit oberste Gebote der Presse. Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Ähnliches gilt für das Fernsehen. Gegen diese Prinzipien wird im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg in vielfacher Hinsicht verstoßen.

Ich gebe ein aktuelles Beispiel. Das mörderische Geschehen in dem Kiewer Vorort Butscha ist bis heute nicht annähernd aufgeklärt. Was wir in Zeitungen und im TV sehen, sind grässliche Bilder von Toten auf der Straße, Hinweise auf vorsätzliche Erschießungen, Fesselungen, Folterungen, undeutliche Satellitenbilder; hinzu kommen Zeugenaussagen einer Seite.

Dazu gibt es zwei Tatversionen, eine ukrainische und eine russische, jede der beiden Darstellungen scheint zunächst mit dem objektiven Sachverhalt vereinbar.

Solche Situationen bedürfen einer seriösen Aufklärung. Das wurde gar nicht versucht, was einige deutsche Leitmedien aber nicht hinderte, in großer Einmütigkeit von einer russischen Täterschaft zu sprechen. Wo bleiben hier Recherche und die Pflicht zur wahrhaftigen Berichterstattung?

Im günstigsten Fall wurde gemeldet, dass Moskau die Täterschaft "bestreitet". Andere Medien waren noch dreister und sprachen davon, dass Russland seine Schuld "leugnet". Leugnen heißt, der Täter ist schon überführt, ziert sich aber noch mit dem Geständnis.

Ich könnte meinen Vorwurf der Parteilichkeit durch weitere Beispiele belegen. Solche Medienarbeit dient nicht der Aufklärung, sie ist bewusste Indoktrination mit dem Ziel der Feindbildpflege.

Um es klar zu sagen: Aufgabe des Journalismus ist es nicht, Herold transatlantischer Bündnisinteressen zu sein. Er ist vierte Gewalt im Staat! Seine Aufgabe ist es, wachsam zu sein, selbst zu recherchieren – und die Bürger mündig zu machen.

Diese Rolle erfüllen die Leitmedien im Ost-West-Konflikt nur noch unzureichend. Auch Organe mit einer großen aufklärerischen Tradition sind zu Gleichschrittmarschieren verkommen. Es ist gut, dass es noch Portale wie etwa Telepolis gibt.

Kritisiert wurde im Telepolis-Forum, dass Sie sich zum Fürsprecher Russlands machen und die westliche Sichtweise vernachlässigen. Trifft Sie der Vorwurf der Parteilichkeit?

Peter Vonnahme: Ja, er verletzt mich. Wer meine Artikel ernsthaft liest und verstehen will, was ich geschrieben habe, kann nicht auf den Gedanken kommen, dass ich Propagandist Russlands oder gar Putins bin. Das ist absurd.

Was ich will, ist etwas sehr Einfaches. Ich werbe dafür, dass sich der Westen wieder auf das besinnt, was er seine eigenen "Werte" nennt. Wenn es sie jemals gab, dann wurden sie spätestens im sogenannten war on terror aufgegeben. Der Vorwurf richtet sich an Politik und Medien. Es genügt nicht, leere Worthülsen bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie eine Monstranz vor sich herzutragen.

Zu den grundlegenden Werten unserer Rechtskultur gehört, dass man stets mit gleichen Maßstäben misst ("no double standards"). Hiergegen wurde zuletzt massiv verstoßen. Auch hierzu ein Beispiel: Russland hat durch den Überfall auf die Ukraine massiv gegen das Völkerrecht verstoßen; daran ist nichts zu deuteln. Die westliche Welt hat mit massiven Sanktionen reagiert.

Sanktionspolitik funktioniert nach der Logik des Krieges: Gibt der Gegner nicht nach oder greift er zu Gegensanktionen, werden die Daumenschrauben fester angezogen. Es ist wie im Krieg, man bringt immer schwerere Geschütze in Stellung. Die dünne Trennlinie zwischen Sanktionen und Krieg droht verloren zu gehen. Doch hier soll nicht über die Sinnhaftigkeit von Sanktionen diskutiert werden …

… wobei mir das Gebot zur Anwendung gleicher Maßstäbe schon wichtig erscheint.

Peter Vonnahme: Ich frage mich eben: Warum spricht man erst jetzt über Sanktionen für Völkerrechtsverstöße? Im letzten Vierteljahrhundert hätte wiederholt Anlass bestanden, darüber nachzudenken. Ich erinnere nur an die Kriege in Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und in Libyen.

Diese Kriege verursachten in der Zivilbevölkerung einen sehr viel höheren Blutzoll als der Krieg in der Ukraine und sie trieben Millionen in die Flucht. Meines Wissens ist noch niemand auf die Idee gekommen, die Bevölkerung der USA oder ihrer Bündnispartner für die völkerrechtswidrigen Kriege ihrer Staatsführer zu sanktionieren oder Botschaftspersonal der beteiligten Staaten auszuweisen.

Warum ist es im Falle Russlands anders? Ich habe diese Fragen aufgeworfen und damit in ein Wespennest gestochen. Das Prinzip des Messens mit gleichen Maßstäben ist zu einem Lippenbekenntnis verkommen.

Straffreiheit für westliche Rechtsbrecher kann aber doch nicht bedeuten, Putins Angriffskrieg durchgehen zu lassen.

Peter Vonnahme: Deswegen habe ich auch gefordert, dass Putin wegen seiner Kriegsverbrechen in der Ukraine vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt werden soll; Voruntersuchungen hierfür laufen inzwischen.

Ich habe jedoch in meinem Artikel hinzugefügt, dort könnte sich Putin mit US-amerikanischen Präsidenten (z. B. Bush, Clinton, Obama) zum Spaziergang im Gefängnishof verabreden. Dieser Gedanke ist naheliegend, wenn man mit gleichen Maßstäben messen will. Ich kenne jedoch keinen namhaften Politiker oder Medienvertreter, der Sympathie für diese Idee geäußert hat. Warum ist das so? Weil wir die Guten sind?

An dieser Stelle muss ich Sie fragen, sind Sie ein Putin-Versteher, ein Freund des Aggressors gar?

Peter Vonnahme: Den zweiten Teil der Frage kann ich mit einem klaren Nein beantworten. Beim ersten Teil sage ich, es kommt darauf an, welche Bedeutung Sie dem Begriff "verstehen" beimessen.

Nach meinem Sprachverständnis ist ein Versteher jemand, der sich bemüht, etwas zu begreifen. Das ist etwas fundamental anderes als billigen und rechtfertigen. Vielleicht hängt es mit meinem früheren Beruf als Richter zusammen, dass ich mich erst einmal bemühe zu begreifen, warum jemand so gehandelt hat, wie er gehandelt hat.

Denn wenn ich es nicht begreife, kann ich kein Urteil fällen, zumindest kein gerechtes. Wer mehr dazu lesen will, kann in meiner "Schlussbilanz eines 'Putin-Verstehers'" nachlesen.

Mit Blick auf Putin heißt das, wer der Persönlichkeit des russischen Präsidenten gerecht werden will, tut gut daran, nicht beim Ukraine-Krieg zu beginnen, sondern die ganze Vorgeschichte des Konflikts zu betrachten. Hierbei zeigt sich, dass Putin viele beachtliche Vorschläge gemacht hat, die vom Westen in den Staub getreten worden sind.

Ich kann verstehen, dass ihn das entnervt hat. Aber ich kann nicht billigen, dass er dadurch zum Verbrecher geworden ist. Aus dem Putin-"Versteher" ist ein Putin-Ankläger geworden ist.

Selenskyj verteidigt sein Land gegen einen Angriffskrieg Moskaus. Wie kann er "zündeln", wie Sie schreiben? Held oder Zündler – haben Sie sich da festgelegt?

Peter Vonnahme: Selenskyj ist der gewählte Präsident der Ukraine und er ist Patriot. Von daher kann ich verstehen, dass er alles in seinen Kräften Stehende unternimmt, um sein Land vor der russischen Aggression zu schützen. Dafür hat er meinen uneingeschränkten Respekt und ich wünsche, dass er das Schlimmste für sein Volk vermeiden kann.

Ich verstehe auch, dass er Unterstützung im Ausland sucht und Waffen fordert. Das haben auch schon andere vor ihm getan. Ich habe aber wenig Verständnis dafür, dass er Staaten, die seinen rigorosen Waffenforderungen mit Zurückhaltung begegnen, der Ignoranz und der Herzlosigkeit bezichtigt.

Es ist nämlich nicht verwerflich, dass Deutschland nicht Kriegspartei werden will oder dass es auf das Wohl seiner eigenen Bürger Rücksicht nimmt. Das fordert – nebenbei bemerkt – auch der Amtseid von den Mitgliedern der Regierung und des Bundestags.

Aus dem Umstand, dass der von Putin entfachte Krieg völkerrechtswidrig ist, ergibt sich nicht, dass Deutschland verpflichtet ist, für die Ukraine in einen gerechten Krieg zu ziehen. Thomas Fischer, vormals Richter am Bundesgerichtshof, schrieb in einem Gastbeitrag im Spiegel:

Wenn Argentinien gegen Chile oder Georgien gegen Kasachstan in den Krieg zöge, wäre Deutschland nicht zur Unterstützung einer Seite verpflichtet. Im rechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine ist das nicht anders.

Es ist kein Auftrag der Ehre, für das Vaterland zu sterben, auch nicht für das Ausland. Wer es anders sieht, muss sich fragen lassen, warum er bei anderen Opfern von brutaler Gewalt (etwa Palästinenser, Kurden, Tibeter, Huthis, Sahrauis in der Westsahara) jahrzehntelang zugeschaut hat. Außerdem schrieb Fischer: "Wer erklärt, man müsse, um den Krieg möglichst schnell zu beenden, möglichst viele Waffen liefern, lügt". Wie recht er hat!

Die anfängliche deutsche Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen war auch aus einem weiteren Grund richtig. Selenskyj hat durch sein ungestümes Verlangen nach mehr und schwereren Waffen sowie durch spekulative Bedrohungsszenarien mehrfach erkennen lassen, dass ein militärisches Eingreifen der Nato Teil seines Vabanquespiels ist.

Die handgreifliche Gefahr eines Nuklearkriegs haben ihn nicht abgeschreckt. Ich habe das hier näher begründet.

Deshalb halte ich Selenskyj für einen Zündler am Weltfrieden. Deswegen schaudert es mich, wenn ich sehe, dass die politische Elite der westlichen Welt jeden Videoauftritt des Hasardeurs Wolodymyr Selenskyj mit stehenden Ovationen begleitet. Vielleicht liegt das daran, dass viele dieser Claqueure nicht mehr aus eigenem Erleben wissen, wie sich ein Weltkrieg anfühlt.

Als Jurist haben Sie sich im Verlauf Ihres Berufslebens mit Konflikten befasst. Die Rechtsprechung zwingt zum sachlichen Urteil. Weshalb fällt ein solch nüchterner Blick im Fall des Ukraine-Krieges so schwer, weshalb die Polarisierung?

Peter Vonnahme: Ihre Frage greift ein Missverständnis einiger Kritiker auf. Sie verkennen, dass den Artikel nicht der Richter Vonnahme verfasst hat, sondern der Staatsbürger gleichen Namens. Der Text ist also nicht "Rechtsprechung", sondern wie bei allen anderen Autoren von Telepolis ein Meinungsbeitrag.

Ein solcher steht selbstverständlich auch einem Richter zu. Denn auch er ist Staatsbürger mit weltanschaulichen Überzeugungen und er darf diese äußern. Abgesehen davon lässt sich nicht vermeiden, dass in mein Denken – auch nach fast zwei Jahrzehnten Ruhestand – berufliche Erfahrungen einfließen. Das ist auch gut so.

Denn eine Erfahrung ist, dass alle Sachverhalte mit den gleichen Maßstäben gemessen werden müssen; davon war eingangs schon die Rede. Die andere Berufserfahrung ist, dass Urteile in einem transparenten Verfahren gewonnen werden müssen. Daran habe ich mich gehalten.

Ich habe die Fakten, auf die ich mich stütze, sowie meine Beurteilungskriterien (Maßstäbe) offengelegt. Damit sind sie der Kritik freigegeben. Da ich alle der über 1.000 Forumseinträge zumindest quergelesen habe, weiß ich, dass die übergroße Mehrzahl der Leser meine vom Mainstream abweichende Meinung nicht mit Polarisierung verwechselt.

Es gab sogar viel Zustimmung. Dass es immer ein paar Zeitgenossen gibt, die glauben, sie müssten den Verfasser einer Meinung, die von ihrer abweicht, unter dem Schutzmantel der Anonymität beleidigen, ist ungut, aber nicht neu. Die Fairness, die ich erwarte, habe ich Putin und Selenskyj zuteilwerden lassen.