Den Ukraine-Krieg vom Ende her denken

Verbreitet ist die Parole "Wer einem Erpresser nachgibt, ermuntert ihn". Wie sehen die Folgerungen aus?

Befürworter von deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine betonen gern, wie wichtig es sei, vor der russischen Aggression nicht zurückzuweichen. Werde die russische Armee nicht auf das entschiedenste bekämpft, so wisse niemand, in welche Länder Putin demnächst einmarschiere.

Dieses Argument sieht beflissen von einer Kleinigkeit ab: Auch der russischen Führung dürfte nicht verborgen geblieben sein, auf welche Schwierigkeiten sie mit ihrem Militäreinsatz bereits auf ukrainischem Boden trifft. Die jährlichen Ausgaben für das Militär in Russland beliefen sich 2021 auf 65,9 Milliarden US-Dollar, in Deutschland auf 56, im Vereinigen Königreich Großbritannien auf 68,4 und in den USA auf … 801 Milliarden US-Dollar.

Das russische Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2021 (1.648 Milliarden US-Dollar) war so groß wie das von Belgien und den Niederlanden zusammen und betrug ein Zehntel der Wirtschaftsleistung der EU. Wer der russischen Armee zutraut, bis zur Ostsee vorzustoßen, muss über ein exklusives Spezialwissen verfügen.

Gibt es nicht doch noch einen riesigen Geldschatz und eine konventionelle zweite russischer Armee mit gigantischer Personal- und Waffenstärke? Blieben beide bislang in den unermesslichen Weiten des russischen Hinterlands sicher versteckt?

Verbreitet ist die Parole "Wer einem Erpresser nachgibt, ermuntert ihn." Diejenigen, die diese Krimi-Weisheit auf den militärischen Kampf gegen die russische Armee in der Ukraine übertragen, haben keine Antwort auf die russische "Eskalationsdominanz" (Johannes Varwick). Das konventionelle Eskalationspotenzial der russischen Armee weist enge Grenzen auf (vgl. dazu den instruktiven Artikel von Andreas Rüesch in der NZZ vom 5.5.2022).

Der Unterschied

Aber die russische Armee verfügt über Atomwaffen. Das unterscheidet sie von vielen anderen Armeen in Gegenwart und Vergangenheit. Wer heute die historische Erfahrung mit der Appeasement-Politik gegenüber Hitler ins Feld führt, betont eine Gemeinsamkeit: In einem rein konventionellen Krieg wären das Nazi-Deutschland von 1938 und das gegenwärtige Russland besiegbar. Der Appeasement-Hinweis übergeht aber den entscheidenden Unterschied: Nazideutschland verfügte über keine Atomwaffen, Russland schon.

Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright starb einen Tag, bevor die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. "Meine Denkweise ist München", war ein von Albright (Jahrgang 1937) häufig zu hörender Satz, der auf das Münchner Abkommen 1938 anspielte, mit dem die Tschechoslowakei Nazi-Deutschland einverleibt wurde. Albright musste mit ihrer jüdischen Familie aus der Tschechoslowakei fliehen.

Manche zogen und ziehen aus der Ablehnung der Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland problematische Schlüsse. Albright hat exzessive Sanktionen gegen als zutiefst "böse" angesehene Regimes für legitim erachtet.

1996 wurde sie in einem Interview mit der CBS-Sendung 60 Minutes gefragt, ob der Tod von mehr als 500 000 irakischen Kindern durch die von den USA verhängten Sanktionen es wert gewesen sei. Ein UN-Bericht hatte festgestellt, dass zwischen 1991 und Ende 1995 nicht weniger als 576 000 irakische Kinder aufgrund der harten Wirtschaftssanktionen gestorben waren. Ihre Antwort war deutlich: "Ich denke, das ist eine sehr schwere Entscheidung, aber der Preis ist es wert." Erst viele Jahre später entschuldigte sie sich für diese Worte.

Cyrus Salimi-Asl: Notfalls auch mit Gewalt

Das Statement von Außenministerin Baerbock zu den Sanktionen gegen Russland – "Das wird Russland (!) ruinieren" (Die Welt, 25.2.22) – ist also noch steigerungsfähig.

Wer betont, er würde sich durch den russischen Atomwaffenbesitz nicht erpressen lassen, gibt seine Gesinnung als mutige Privatperson kund. Politische Mächte stellen sich den Realitäten. Und das gilt auch und gerade für diejenige Nation, die die Ukraine am stärksten unterstützt: die USA.

Am 5. Mai teilen Patrick Diekmann und Johannes Bebermeier mit:

Der Einsatz von taktischen – also kleineren – Atomwaffen wird laut russischen Oppositionellen durchaus in Moskau diskutiert. Putin will um jeden Preis einen Sieg erringen oder zumindest einen Teilerfolg in der Ukraine erzielen, den seine Propaganda dann als Sieg verkaufen kann. Bisher gibt es diesen Erfolg nicht.

Patrick Diekmann und Johannes Bebermeier, Vier Szenarien im Ukraine-Krieg

Der Einsatz dieser Sorte kleineren Atomwaffen "würde wahrscheinlich zu einer schnellen Aufgabe der Ukraine führen und wäre vor allem dann denkbar, wenn Putin keinen anderen Ausweg mehr sieht. Für diesen Fall haben Länder wie die USA schon angekündigt, dass sie nicht unbedingt in der Ukraine intervenieren würden. Das steigert natürlich auch die Versuchung im Kreml."

Das Risiko des Einsatzes kleiner Atomwaffen steigt in dem Maße, wie die russische Führung keine Erfolge im Ukraine-Krieg vorweisen kann und es für sie keinen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Konflikt gibt. Diese Aussage über die Realität zu treffen, heißt nicht, das russische Vorgehen zu verharmlosen oder gutzuheißen.

Faktische Eskalationsdynamik und normative Bewertung des Kriegsgeschehens

Die Beschreibung der faktischen Eskalationsdynamik und die normative Bewertung des Kriegsgeschehens sind strikt auseinanderzuhalten. Niemandem in der Ukraine nutzt es, auf der moralisch richtigen und legitimen Seite zu stehen, wenn eine Region der Ukraine durch einen Atomwaffeneinsatz zerstört wird. Wer sich das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität auf die Fahne schreibt, soll dieses Recht ins Verhältnis setzen zu den Opfern, die der Einsatz kleiner Atomwaffen fordern würde.

Wer auf diese Gefahr hinweist, ist kein Putin-Freund. Im Gegenteil. Florian Harms schreibt zu Recht:

"Unter Druck tun Menschen die übelsten Dinge, und besonders üble Menschen tun besonders üble Dinge. … ohne Kompromisse wird es kaum gehen. Man kann üble Menschen in die Knie zwingen. Aber solange sie einen Finger am Atomknopf haben, sollte man sie lieber nicht zu Boden werfen".

Einerseits wird in der deutschen Öffentlichkeit Putin nach Kräften dämonisiert. Andererseits verdrängen Befürworter eines Kriegs für westliche Werte gegen Russland auf dem Boden der Ukraine mit Fleiß das atomare Risiko.

Zur Dämonisierung Putins bzw. der russischen Staatsführung gehört, in der imperialen großrussischen Rhetorik von Putin einen willkommenen Beleg für das eigene Feindbild zu sehen. Dann braucht ein Motiv für das Vorgehen gegen die Ukraine gar nicht mehr in der Diskussion vorzukommen.