Über die aktuelle Gefährlichkeit unterkomplexen Denkens

Komplexe Prozesse verlangen nach komplexem Denken und Handeln. Unterkomplexe Äußerungen und Handlungsweisen führender Politiker:innen sind äußerst problematisch und verhindern einen ganzheitlichen Blick auf das aktuelle politische Geschehen.

Sicherlich weiß Sahra Wagenknecht, dass nicht die Nato die maßgebliche Schuld für den Krieg in der Ukraine trägt, sondern die Regierung der Russischen Föderation, die sich entschieden hat, das Nachbarland militärisch anzugreifen und andere durchaus mögliche Alternativen zur Bewältigung der von der russischen Regierung angeblich wahrgenommenen Sicherheitsproblematik nicht wahrzunehmen.

Sich vor allem auf politische und militärische Problemstellungen der Vorkriegszeit zu beziehen und die Kritik am russischen Vorstoß niedrig zu halten bzw. die russische Föderation als Opfer der Nato darzustellen, verweist auf unterkomplexes und nicht-nachhaltiges Denken. Denkt sie nicht komplex genug oder will sie dies nicht?

Christian Lindner und Friedrich Merz verlangen die Verlängerung der Laufzeiten der noch drei aktiven Atomkraftwerke, um der strategischen Verknappung der Gaslieferungen von russischer Seite begegnen zu können. Wenn sie dies fordern, so zeigen sie ein hohes Maß an unterkomplexem und nicht-ganzheitlichem politischen Denken. Sind sie zu einem komplexeren Denken nicht in der Lage?

Beide Beispiele sollen im letzten Drittel des Beitrags noch einmal aufgegriffen werden.

Der ganzheitliche Ansatz

Der hier folgenden Argumentation liegt ein holistisches bzw. ganzheitliches Verständnis zugrunde.1 Dieser Ansatz ist vor allem durch fünf systemtheoretische Annahmen begründet:

1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen.

2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.

3. Strukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.

4. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.

5. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.

Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden im Rahmen eines ganzheitlichen bzw. holistischen Denkens als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile.

Mit diesen skizzenhaften Vorbemerkungen dürfte auch zumindest in Ansätzen deutlich sein, wie der Terminus "Ganzheitlichkeit" hier verwendet wird. Er wird zu einer Kategorie, die ein Erkennen und kritisches Hinterfragen von Strukturen ermöglicht, das durch unterkomplexes Denken und Handeln behindert werden würde.2