"Das 1,5-Grad-Ziel ist tot", sagen Klimaforscher – ohne zur Resignation aufzurufen

"Deutlich unter zwei Grad" ist besser als drüber. Symbolbild: ELG21 auf Pixabay (Public Domain)

Um wenigstens "deutlich unter zwei Grad" zu bleiben, müsse klargestellt werden, wie eng das Zeitfenster sei, heißt es im offenen Brief der "Scientist Rebellion". Verbal bestreiten dies Spitzenpolitiker nicht. In der Praxis sieht es anders aus.

Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat am Freitag in seiner "Rede an die Nation" festgestellt: "Der Klimawandel macht keine Ukraine-Pause!" Inmitten dieser Ansprache, die sonst vor allem von einer "Phase der Konfrontation" mit Russland und tendenziell auch mit China handelte, betonte Steinmeier, dass eigentlich viel internationale Kooperation nötig sei, um mit dieser Menschheitsaufgabe fertigzuwerden.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte einige Tage zuvor die Erwartungen an die bevorstehende UN-Klimakonferenz COP27 im ägyptischen Scharm asch-Schaich weit heruntergeschraubt: Das Minimalziel der Bundesregierung für die für November geplante Konferenz sei, "dass sie stattfindet", sagte Baerbock laut einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa. "Das weiß man in dieser Weltlage nie." Möglicherweise wird es kein Abschlussdokument geben.

2,4 bis 2,8 Grad Erwärmung prognostiziert

Klar ist: "Business as usual" würde zu einer globalen Erwärmung um 2,8 Grad durch klimaschädliche Emissionen bis Ende dieses Jahrhunderts führen – das geht aus dem neuesten Bericht des UN-Umweltprogramms über die fortschreitende Klimakatastrophe hervor. Selbst wenn alle bisher beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen vollständig umgesetzt würden, wären es bestenfalls 2,4 Grad, heißt es im "Emissions Gap Report 2022".

Die Fortschritte seit dem Klimagipfel in Glasgow 2021 seien "beklagenswert unzureichend". Die Welt rase auf einen Temperaturanstieg zu, der weit über das Ziel des Pariser Abkommens von deutlich unter zwei Grad, vorzugsweise 1,5 Grad hinausgehe.

Das 1,5-Grad-Ziel sei bereits tot, erklären unterdessen rund 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Netzwerks "Scientist Rebellion" aus mehr als 40 Ländern in einem offenen Brief, um "der Öffentlichkeit klar mitzuteilen, was beim Thema Klimakrise und Biodiversitätsverlust bereits bei Diskussionen innerhalb der Wissenschaft eindeutig ist".

In dem Schreiben wird die Gemeinschaft der Forschenden, die in verschiedensten Fachbereichen zu Aspekten des Klimawandels arbeiten, dazu aufgerufen, offen zu sagen, "dass wir das 1,5-Grad-Ziel unweigerlich verfehlen werden, so wie es im letzten Bericht des IPCC dargestellt wird".

Als Aufruf zur Resignation nach dem Motto "Jetzt ist sowieso alles egal" wollen sie das nicht verstanden wissen – im Gegenteil: Aus ihrer Sicht muss die Enge des Zeitfensters unterstrichen werden, um den Temperaturanstieg wenigstens "deutlich unter zwei Grad Celsius" zu halten, wie es das im Pariser Abkommen von 2015 vorsieht.

Absage an riskante "Technologieoffenheit"

Dafür müsse aber "unwahrscheinlichen Annahmen zu möglichen Technologien für negative Emissionen" weniger Raum gegeben werden. "Das entspricht der wissenschaftlichen Ungewissheit bei diesem Thema", schreiben die Forschenden. Eine klare Absage an das wirtschaftsliberale Mantra von der "Technologieoffenheit" beim Klimaschutz, mit dem auf Erfindungen gesetzt wird, die es noch gar nicht gibt. Stattdessen müssen die Emissionen schnellstmöglich gemindert werden.

In Deutschland hat die Bundesregierung in den letzten Monaten die Weichen anders gestellt – vor allem aus geopolitischen Gründen: Um russisches Gas zu ersetzen, wurden Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt und die Abbaggerung des Dorfes Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier beschlossen. Auch die Demontage von Windrädern ist hier kein Tabu. Außerdem soll mit neuen Terminals Flüssigerdgas importiert werden, wodurch Umweltverbände in Wilhelmshaven eine massive Verschmutzung des Meeres befürchten.

Ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr wird zunächst in energieintensive Stahlproduktion fließen – wo genau diese Emissionen wieder eingespart werden sollen, ist unklar. Im Zweifel bei den Privathaushalten. Steinmeier stimmte jedenfalls in seiner Rede die Allgemeinheit auf "raue Jahre" ein.