Gendern im ÖRR: Vertragsbruch gegenüber den zahlenden Zuschauern?

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Debatte über Gender-Sprache in den Öffentlich-Rechtlichen: Was aus dem Protest hochkarätiger Sprachwissenschaftler wurde und warum das ZDF bei ihnen Misstrauen erregt.

"Gästinnen??" Der Kollege hat wohl zuerst an einen Schreibfehler gedacht. Bis ihm der Autor am Telefon erklärte, dass er den Begriff bewusst gewählt, und "Gäste" eben zeitgemäß gegendert hatte. Die Irritation stand dem Redakteur ins Gesicht geschrieben.

"Also bei allem Verständnis …", ächzte er nach einer sichtlich kräftezehrenden Diskussion – "... und ich bin wirklich auch gegen Diskriminierung ...", schob er hastig hinterher – ".. .aber das können wir doch so nicht schreiben".

An diese Szene erinnere ich mich oft, wenn es wieder einmal um das Gendern in der deutschen Sprache geht, weil sie die Grenzerfahrung um Sprache, guten Willen und Gerechtigkeit so gut einfängt. Nicht jeder kann aber heutzutage noch über das Thema lachen.

Denn die Gender-Debatte hat in den vergangenen Jahren immer mehr Raum in der Öffentlichkeit eingenommen, sowohl in der medial vermittelten wie auch – meist daran anschließend – in der persönlich erlebten. Dass die Debatte innerhalb der vermittelnden Zunft selbst zum Problem wird, scheint eher die Ausnahme zu sein – auch, weil die Rundfunkmedien das Gendern entgegen öffentlicher Bekundungen gezielt (an-)steuern. Ein Artikel, der kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschienen ist, legt das zumindest nahe. Dazu später mehr.

Es ist vielleicht nicht ganz unerheblich für die "Gästinnen"-Anekdote, dass der Kollege Kultur-Redakteur war. Noch nicht alt, aber weiß und männlich. Erfahren und gebildet, aber offenbar nicht auf der Höhe der Zeit. Wohlmeinend, aber nicht politisch korrekt (genug).

Und dann hatten sich plötzlich nicht nur der Zeitgeist, sondern auch noch die deutsche Rechtschreibung gegen ihn verschworen. Obwohl – so plötzlich nicht: Das Wort "Gästin" steht immerhin seit 2011 im Duden – wenngleich mit dem Prädikat "selten". Noch ist es das.

Schließlich verfolgen Befürworter einer "gendergerechten" Sprache bekanntlich das Ziel, alle innerhalb einer Aussage angesprochenen Identitätsgruppen sprachlich zu repräsentieren. Diese sprachliche Angleichung wird als Beitrag zur gesellschaftlichen Gleichstellung dieser Gruppen angesehen.

Während man sich in der geschriebenen Sprache mit dem Genderstern (sog. Asterisk) zwischen Wortstamm und weiblicher Endung behilft, ist in der gesprochenen Sprache die Genderpause (sog. Glottisschlag) als Ausdrucksform verbreitet. Zur Auflockerung hier eine kleine Kostprobe von Harald Schmidt. Aber nicht alle können über Kultur lachen.

"Tendenziöse" Berichterstattung

Denn nicht nur selbst berufene, sondern auch hochdekorierte Hüter der deutschen Sprache werfen insbesondere den öffentlich-rechtlichen Medien vor, die deutsche Sprachkultur der Political Correctness zu opfern.

Unter den Kritikern finden sich Schwergewichte wie der – jüngst verstorbene – Wolf Schneider, langjähriger Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule und Preisträger des Medienpreises für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache, die ehemalige Leiterin der Grammatik-Abteilung des Instituts für Deutsche Sprache, Gisela Zifonun oder Peter Eisenberg: Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, ehemaliger Duden-Herausgeber und Träger des Jacob-Grimm-Preises Deutsche Sprache.

Die beiden Letztgenannten zählen auch zu den mittlerweile knapp 700 Unterzeichnern eines Ende Juli 2022 gestarteten Online-Aufrufs unter dem Titel "Wissenschaftler kritisieren Genderpraxis des ÖRR". Die Unterzeichner, allesamt Absolventen eines literatur- oder sprachwissenschaftlichen Studiums, werfen den öffentlich-rechtlichen Medien vor, durch den Gebrauch der Gender-Sprache ihren gesetzlichen Bildungsauftrag zu konterkarieren.

Sie weisen die (implizite) Prämisse der Gender-Sprache zurück, das grammatikalische Geschlecht (Genus) sei mit dem biologischen Geschlecht (Sexus) gleichzusetzen. Als Beispiel für ein nicht diskriminierendes, also: geschlechtsneutrales, generisches Maskulinum, nennen sie etwa den Begriff "der Mensch".

Kritisiert wird außerdem die "sprachidealistische Position", die annehme, man könne durch Sprache gesellschaftliche Zustände verändern sowie der Umstand, dass Gendern als "Sexualisierung der Sprache" zu einer "permanenten Betonung von Geschlechterdifferenzen" führt. Die Kritik ist aber nicht nur sprachlicher Natur, sondern vor allem institutioneller.

Die Berichterstattung des ÖRR zum Gendern, so die Verfasser des Aufrufs, sei "unausgewogen, vielfach tendenziös und dien[e] im Wesentlichen der Legitimation der eigenen Genderpraxis". Dazu trügen auch die Moderatoren selbst bei, indem sie sich explizit oder implizit durch den Gebrauch gegenderter Begriffe auf die Sprachpraxis berufen. Ihre Vorwürfe stützen die Unterzeichner auf eine Reihe von Beispielen.

"Moralisierung" und "sozialer Unfrieden"

Das wohl gewichtigste Argumente aber, auf das sich der Aufruf bezieht, ist die Unbeliebtheit der Gender-Sprache beim Großteil der Bevölkerung. Auch zur Stützung dieser Behauptung werden auf der Website einige Umfragen verlinkt.

Die Journalisten verfolgten also nicht nur die Agenda einer "lautstarken Minorität von Sprachaktivisten" und verletzten so ihr journalistisches Neutralitätsgebot, sondern trügen durch ihr Verhalten aktiv zu einer Spaltung der Gesellschaft bei:

Nicht zuletzt sorgt die vielfach mit moralisierendem Gestus verbundene Verbreitung der Gendersprache durch die Medien für erheblichen sozialen Unfrieden und das in Zeiten, in denen ohnehin zahlreiche gesellschaftliche Spaltungstendenzen zu beobachten sind. Auch diesen gefährlichen Partikularisierungs- und Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft leistet Gendern Vorschub." (Fettung im Original)

Aufruf Linguistik versus Gendern

Zahlreiche Medien berichteten über den Linguisten-Aufruf, den Anfang machte am 30. Juli Die Welt.

Claus Kleber: Kein Verständnis für "Sprachpolizei"

Am 5. Dezember, rund vier Monate nach Erscheinen des Aufrufs, veröffentlicht Fabian Payr einen Kommentar in der FAZ, der sich mit der Resonanz auf den Linguisten-Aufruf auseinandersetzt.

Payr hat eine starke Meinung zu dem Thema: Der studierte Germanist, ehemalige Kulturjournalist und Komponist hat schon 2021 viele Argumente der Gender-Kritiker in einem Sachbuch aufgegriffen, treffenderweise heißt es: "Von Menschen und Mensch*innen – 20 gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören". Dass "Mensch" im Text des Aufrufs als Gegenbeispiel eines Genderbegriffs angeführt wird, leuchtet ein – wenn man weiß, dass es Payr ist, der für die Website verantwortlich zeichnet.

In seinem Artikel stellt Payr das "breite Echo in der Presse" der "ausgeprägte[n] Schmallippigkeit der Sender" gegenüber. Einen Monat nach dem Aufruf habe die Gruppe "alle Intendanzen des ÖRR" angeschrieben und um Rückmeldung gebeten. Die Resonanz sei ernüchternd gewesen: Bis auf zwei Journalisten von 3Sat und SWR sei "die Kommunikation mit verantwortlichen Instanzen […] nicht in Gang" gekommen. Besonders hebt Payr dabei die Reaktion des ZDF hervor.

Dieses habe, wie im Übrigen auch der WDR, in einer "Standardantwort" lediglich beteuert, dass es den Mitarbeitern frei stehe, sich "diskriminierungsfrei" zu äußern. Der WDR beteuerte seinerseits, "niemanden ausschließen" zu wollen. Payr sieht darin "woke Phrasendrescherei". Schließlich folgte am 8. Oktober auf 3Sat dann doch eine Stellungnahme des ÖRR, wenn auch eine "indirekte", wie Payr schreibt.

Gemeint ist die Dokumentation "Krieg der Sternchen – Die Debatte um gendergerechte Sprache", in der auch Payr selbst zu Wort kommt. Seine nachträgliche Kritik: Claus Kleber, ehemaliger Moderator des ZDF-Heute-Journals, komme darin "prominent" zu Wort und bezeichne die Unterzeichner des Aufrufs als "Sprachpolizei".

Zwar ist das so nicht ganz richtig, denn Kleber fragt lediglich danach, wie sich die Unterzeichner eine "Sprachpolizei" vorstellten, die Mitarbeiter vom freiwilligen Gendern abhalten soll. Dennoch wird der Punkt deutlich: Alles sei freiwillig. Doch das ZDF beeinflusst seine Mitarbeiter deutlich mehr, als es zugeben will.