Noam Chomsky: Von Patriot-Raketen über Orwell-Propaganda zu Wirtschaftsdemokratie

Bild: Samuel Branch / Unsplash Licence

Chomsky sagt: Kriegseskalation und Klimakrise sind kein Schicksal. Gewerkschaften und Bewegungen haben Macht. Sie können nicht nur die Wirtschaft umgestalten. Was geschehen muss.

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Truthout, wo Sie die englische Version finden.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Noam, zu Beginn des neuen Jahres, was sind für Sie die größten Herausforderungen, denen sich unsere Welt heute gegenübersieht? Würden Sie der Behauptung zustimmen, dass der menschliche Fortschritt, obwohl er real und in mancher Hinsicht bedeutsam ist, weder gleichmäßig noch unvermeidlich ist?

Noam Chomsky: Am einfachsten ist es, mit der Weltuntergangsuhr ("Doomsday Clock") zu antworten, die jetzt auf 100 Sekunden vor Mitternacht steht und wahrscheinlich weiter Richtung Untergang rückt, wenn sie in ein paar Wochen neu eingestellt wird.

Das sollte sie auch, wenn man bedenkt, was im letzten Jahr passiert ist. Die Probleme, auf die die Weltuntergangsuhr im vergangenen Januar hingewiesen hat, stehen nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung: Atomkrieg, globale Erderhitzung und andere Umweltzerstörungen sowie der Zusammenbruch der rationalen Diskurs-Arena. Diese Arena bietet jedoch die einzige Hoffnung für die Bewältigung der existenziellen Herausforderungen. Es gibt noch weitere, aber konzentrieren wir uns auf die genannten.

In Washington hat man gerade dafür gestimmt, die Ukraine mit Patriot-Raketen auszustatten. Ob sie funktionieren oder nicht, ist eine offene Frage, aber Russland wird von einer Worst-Case-Analyse ausgehen und sie als mögliches Ziel anvisieren. Wir haben nur wenige Details, aber es ist wahrscheinlich, dass US-Ausbilder mit den Raketen in die Ukraine geschickt werden und daher Ziele für russische Angriffe sind, was uns auf der Eskalationsleiter ein paar Stufen nach oben bringen könnte.

Das ist nicht das einzigmögliche unheilvolle Szenario in der Ukraine. Die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem bisher für unmöglich gehaltenen Krieg besteht aber nicht nur dort. Vor der Küste Chinas nehmen die extremen und gefährlichen Spannungen zu, zumal Biden China quasi den Krieg erklärt hat. Zugleich brennt der Kongress darauf, die "strategische Zweideutigkeit" aufzukündigen, die den Frieden in Bezug auf Taiwan 50 Jahre lang aufrechterhalten hat.

Man könnte die Liste derart fortführen. Die Gefahr eines allesvernichtenden Kriegs sind gestiegen, gepaart mit törichten und ignoranten Versicherungen, dass wir uns nicht darum kümmern müssen.

Schauen wir uns die Umwelt an. Was die globale Erwärmung betrifft, so sind die Nachrichten schrecklich bis entsetzlich, aber es gibt auch einige Lichtblicke. Das Abkommen über Biodiversität ist ein wichtiger Schritt zur Begrenzung der tödlichen Umweltzerstörung.

Die Unterstützung ist fast universell, wenn auch nicht vollständig. Ein Staat verweigerte die Unterschrift, der übliche Ausreißer, das mächtigste Land der Weltgeschichte. Die GOP ("Grand Old Party", die Partei der Republikaner), die ihren Prinzipien treu bleibt, weigert sich, irgendetwas zu unterstützen, das private Macht und Profit beeinträchtigen könnte.

Aus ähnlichen Gründen verweigerten die USA, das Kyoto-Protokoll zur globalen Erwärmung von 1997 in Kraft zu setzen (in diesem Fall schloss sich dem auch Andorra an). Damit wurde eine auf das Desaster zusteuernde Untätigkeit eingeläutet, die die Aussichten drastisch verringerte, der Katastrophe auszuweichen.

Ich will damit nicht sagen, dass die übrige Welt ohne Fehl ist. Keineswegs. Aber der globale Hegemon hat auch hierbei eine Führungsrolle inne.

Schauen wir uns den dritten Aspekt an, der die Weltuntergangsuhr in Richtung Mitternacht rückt: der Zusammenbruch der Arena des rationalen Diskurses. Die meisten Diskussionen über dieses zutiefst beunruhigende Phänomen konzentrieren sich auf Ausbrüche in den sozialen Medien, wilde Verschwörungstheorien, QAnon und gestohlene Wahlen sowie andere gefährliche Entwicklungen, die zu einem großen Teil auf den Zusammenbruch der sozialen Ordnung unter den Hammerschlägen eines Klassenkampfs zurückgeführt werden können, der in den letzten 40 Jahren zu beobachten war.

Dem wird dann erleichtert entgegen gehalten: Zumindest haben wir die nüchterne und an der Vernunft orientierte Zone der liberalen intellektuellen Meinung, die eine gewisse Hoffnung auf einen rationalen Diskurs bietet.

Stimmt doch, oder?

Was wir in diesem Bereich aber zu sehen bekommen, ist oft unfassbar – und ruft außerhalb der disziplinierten westlichen Kreise Spott hervor. Die führende Fachzeitschrift für internationale Angelegenheiten informiert uns beispielsweise in nüchternem Ton darüber, dass eine russische Niederlage "den Grundsatz bekräftigen würde, dass ein Angriff auf ein anderes Land nicht ungestraft bleiben darf."

Aber was ist mit dem Prinzip, auf das sich die Zeitschrift Foreign Affairs hier bezieht, wenn wir die Aggressoren sind? Wenden wir es dann auch gewissenhaft an? Tatsächlich wird es dann nur von denen hochgehalten, die das unverzeihliche Verbrechen begehen, die Prinzipien, die wir für andere tapfer verteidigen, auf uns selbst anzuwenden. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Gedanke Vertretern im Mainstream nie gekommen ist. Aber es ist nicht leicht, ihn dann ausgedrückt zu finden.

Manchmal ist das, was geschrieben wird, so abwegig, dass man sich zu Recht fragt, was damit gemeint sein mag. Denn die Autoren können nicht wirklich glauben, was sie da sagen.

Wie soll man zum Beispiel auf einen Artikel reagieren, der die Überschrift trägt: "Keine schlüssigen Beweise, dass Russland hinter dem Nord-Stream-Angriff steckt" und in dem es weiter heißt:

Die führenden Politiker der Welt haben Moskau schnell für die Explosionen entlang der unterseeischen Erdgaspipelines verantwortlich gemacht. Aber einige westliche Behörden bezweifeln jetzt, dass der Kreml dafür verantwortlich ist,

… obwohl die Russen es wahrscheinlich getan haben, um "den Energiefluss für Millionen Menschen auf dem Kontinent zu unterbrechen"?

Es stimmt zwar, dass ein Großteil des Westens Russland schnell die Schuld gab, aber das ist genauso aufschlussreich wie die Tatsache, dass russische Apparatschiks, wenn etwas schief geht, sofort die USA beschuldigen. Sie haben nichts davon, wenn sie einen ihrer wertvollen Vermögenswerte zerstören. Der russische Staatskonzern Gazprom ist der Haupteigentümer und Miterbauer der Pipelines. Russland verlässt sich auf sie, was Einnahmen und Einfluss angeht. Wenn sie "den Energiefluss abwürgen" wollten, hätten sie nur ein paar Ventile schließen müssen.

Wie auch die rationalen Teile der Welt sofort erkannten, ist der wahrscheinlichste Schuldige der einzige, der sowohl ein Motiv als auch die Fähigkeit zur Sabotage hat. Das Motiv der Vereinigten Staaten steht nicht in Frage. Es wird seit Jahren öffentlich verkündet.

Präsident Biden hat der deutschen Regierung ausdrücklich und öffentlich mitgeteilt, dass die Pipeline zerstört werde, sollte Russland in die Ukraine einmarschieren. Die Fähigkeit der USA steht natürlich auch nicht in Frage, selbst wenn man einmal von den massiven US-Marine-Manövern im Gebiet der Sabotage kurz, bevor sie stattfand, absieht.

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