Forschung: Weniger Durchbrüche, schleppender Fortschritt

Innovationsproblem: Menge des wissenschaftlichen und technischen Wissens stieg in den letzten Jahrzehnten sprunghaft an, die Zahl bahnbrechender Veröffentlichungen und Patente ist dagegen deutlich zurückgegangen.

Sucht man nach technisch-wissenschaftlichen Innovationen für das neue Jahr, so listet die Wissenschaftsredaktion des SWR auf: viel Forschung rund um die mRNA-Impfungen, neue Mondmissionen mit dem Extra, dass auch Touristen im nächstes Jahr "zum ersten Mal kurz am Mond vorbeifliegen könnten", sowie die Aussicht, dass die erste Behandlung mit der Genschere Crispr-Cas zugelassen werden könnte.

Beim Ausbau der Biotechnologie ist einiges an Innovationen zu erwarten, las man kurz zuvor in der SZ.

Das Aussichts-Panorama verheißt interessante Veränderungen, aber nichts wirklich Neues unter der Sonne. Ist es ein zu großer Anspruch, derartiges von Wissenschaft und Forschung zu erwarten? Die Frage bekommt zu Anfang des Jahres 2023 einen interessanten Resonanzboden, da eine Studie, erschienen im Fachmagazin Nature mit der Behauptung für Diskussionen sorgt, dass die "bahnbrechenden Erkenntnisse" weniger geworden sind.

Das läge an zu viel Wissen und zu großer Spezialisierung, wird vorgebracht. Trotz rasanter Fortschritte im Bereich der Biotechnologie, bei Crispr und in der mRNA-Technologie, wer genau hinsehe, "kann in verschiedenen Gebieten von Wissenschaft und Technik gewisse Ermüdungserscheinungen beobachten", kommentierte etwa der österreichische Standard. (Die Red.)

Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt hat sich verlangsamt

Man würde annehmen, dass besonders der technische und wissenschaftliche Fortschritt immer mehr an Fahrt aufnehmen sollte, da weltweit immer mehr Universitäten, Wissenschaftler und Forschungsinstitute Kapazitäten bereitstellen, die noch vor 100 oder gar 200 Jahren undenkbar waren.

Sie sollten durch globale Konkurrenz den entsprechenden nationalen, institutionellen, wirtschaftlichen und individuellen Leistungsdruck hervorbringen, der dafür sorgt, dass der Strom an wissenschaftlichen Durchbrüchen und Innovationen stetig ansteigt.

Zumindest die Menge des wissenschaftlichen und technischen Wissens ist in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen. Die wissenschaftliche Literatur soll sich alle 17 Jahre verdoppeln. Aber der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat sich verlangsamt, wie nun eine Studie herausgefunden haben will – trotz all der weiter steigenden Ausgaben für Wissenschaft und Technik und der deutlich vermehrten Zahl an Wissensarbeiter.

"Weniger neu, weniger Verbindungen von unterschiedlichen Wissensgebieten"

Das haben schon frühere Studien etwa bei der Entwicklung von Halbleitern oder Medikamenten beobachtet. "Papers, Patente und sogar Förderanträge sind im Vergleich zu früheren Arbeiten weniger neu und verbinden weniger wahrscheinlich unterschiedliche Wissensgebiete, was beides Vorläufer von Innovationen sind", so die Autoren. Es fehlt aber ein allgemeines Maß für Innovation.

Einen Ansatz dafür haben die Wissenschaftler entwickelt.

Für die Studie Papers and patents are becoming less disruptive over time, die in Nature erschienen ist, wurden 45 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichungen von 1945 bis 2010 und 3,9 Millionen Patente von 1976 bis 2010 ausgewertet und mit dem "CD-Index" überprüft.

Mit diesem soll sich anhand der Titel und Abstracts sowie der Zitierungen erkennen lassen, ob wissenschaftliche Veröffentlichungen nur Verbesserungen innerhalb eines bestehenden Paradigmas, wie Thomas Kuhn dies nannte, leisten oder Teil eines Paradigmenwechsels sind, was die Autoren als "disruptiv" bezeichnen.

Der CD-Index

Der Index geht davon aus, dass dann, wenn ein Paper disruptiv ist, eine darauf folgende Veröffentlichung weniger wahrscheinlich auch die dem Paper vorausgehenden Veröffentlichungen zitiert. Das ist intuitiv verständlich.

Wenn in einem Paper ein neuer Ansatz vorgestellt wird, sind die Arbeiten, die die Position davor vertreten, weniger interessant, während bei einem Paper, das ein Paradigma ausbaut, verbessert oder konsolidiert, die vorhergehenden Veröffentlichungen für die nachfolgen wichtiger sind, da das Wissen, auf dem das Paper aufbaut, immer noch relevant ist. Der CD-Index wird 5 Jahre nach Veröffentlichung des Papers oder des Patents gemessen und zwischen -1 (konsolidierend) und 1 (disruptiv) eingestuft.

Bei wissenschaftlichen Aufsätzen sank die Disruptivität zwischen 1945 und 2010 zwischen 91,9 Prozent in den Sozialwissenschaften (von 0,52 auf 0,04 im CD-Index) und bis zu 100 Prozent in den Physikwissenschaften (von 0,36 auf 0). Bei Patenten ging sie zwischen 78,7 Prozent für Computer und Kommunikation (von 0,30 auf 0,06 im Jahr 2010) und bis zu 91,5 Prozent für Arzneimittel und Medizin (von 0,38 auf 0,03) zurück.

"Abnahme der Begriffsdiversität"

Eine weitere Hypothese ist, dass bei hoher Disruption mehr neue Begriffe in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Patenten auftauchen. Wenn sie geringer wird, sollte danach auch die Diversität der Terminologie abnehmen. Die Autoren stellten auch die Abnahme der Begriffsdiversität in ähnlichen Größenordnungen fest, wobei allerdings die Begriffe in den Titeln und die Abstracts verwendet wurden.

Dabei wurden offenbar die wissenschaftlichen Veröffentlichungen nach 1970 und die Patente nach 1990 wieder etwas innovativer. Ähnlich sanken die atypischen Kombinationen von Begriffen sowie die verwendeten Verben, die mit der Schaffung, Entdeckung oder Wahrnehmung von Neuem verbunden sind.

So wurden beispielsweise die Verben "herstellen", "formen", "vorbereiten" oder "machen" später weniger verwendet, während häufiger "verbessern", "erweitern" oder "vergrößern" gebraucht werden. Das Ergebnis:

Wir stellen fest, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt. Dieses Muster gilt für alle Fachgebiete und ist über mehrere verschiedene zitier- und textbasierte Metriken hinweg stabil.

Russel Funk, Michael Park, Erin Leahey

Die Gründe dafür konnten mit dem Ansatz natürlich nicht herausgefunden werden, allerdings sagen die Autoren, dass der Rückgang der Disruptivität "wahrscheinlich nicht durch Veränderungen in der Qualität der veröffentlichten Wissenschaft, der Zitierpraxis oder durch feldspezifische Faktoren bedingt sind".

Sie vermuten "eine grundlegende Veränderung in der Natur von Wissenschaft und Technologie".