Polen: Russischer Marschflugkörper lässt Vertrauen implodieren

CH-55-Marschflugkörper sind atomwaffenfähig. Das in Polen niedergegangene Exemplar war zum Glück nicht "bestückt". Archivbild: George Chernilevsky / Public Domain

Raketeneinschlag im Dezember erst seit kurzem öffentlich bekannt. General soll auch Verteidigungsminister nicht informiert zu haben. Was wurde befürchtet?

Ende April meldeten Spaziergänger, nahe der zentralpolnischen Stadt Bydgoszcz (Bromberg) Metallteile mit russischer Aufschrift in einem Waldstück gefunden zu haben. Am 16. Dezember 2022 war dort ein Marschflugkörper vom sowjetischen Typ CH-55 eingeschlagen. Der Einschlag der glücklicherweise nicht mit einem Sprengkörper bestückten Rakete blieb bis vor Kurzem der Öffentlichkeit verborgen.

Anfang dieser Woche berichtete dann der Radiosender TOK FM unter Berufung auf das polnische "Institut für militärische Luftfahrtechnik" dass der Marschflugkörper vom Typ Ch-55 aus dem östlichen Ausland abgeschossen worden sein musste, da er in Polen nicht im Gebrauch sei. Da es sich um eine "Luft-Boden-Rakete" handelt, müsste sie ein Flugzeug abgeschossen haben, vornehmlich ein russisches.

Laut Luftüberwachung witterungsbedingt vom Radar verschwunden

Polens Luftüberwachung habe das Geschoss via Radar verfolgt, jedoch nahe der Stadt Bydgoszcz aus den Augen verloren, hieß es. Schuld seien die schwierigen Wetterbedingungen gewesen. Die Raketenteile waren bis zum 19. Dezember vergeblich von Polizeipatrouillen und einem Hubschrauber gesucht worden.

Nun beschuldigte Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak General Tomasz Piotrowski, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ihn nicht über den Marschflugkörper informiert zu haben – und forderte dessen Rücktritt. Piotrowski widersprach nicht direkt, erklärte jedoch am Freitag, dass er seit seinem Amtsantritt 2018 "unermüdlich für die Sicherheit unseres Landes" sorge.

Nach dem Fund der Raketenteile war zunächst noch unklar, ob diese nicht aus eigenen Beständen kämen. Allerdings verfüge Polen nicht über diesen Marschflugkörper und auch nicht über ein entsprechendes Abschusssystem.

Die Ukraine soll diese sich selbst lenkenden Raketen Jahre vor der russischen Invasion in dem Nachbarland an Russland abgegeben oder verschrottet haben.

Anscheinend hätten die Militärs gegen die Vorschriften verstoßen und die Staatsanwaltschaft nicht informiert – um die Sache zu vertuschen, so die Überlegung des Senders.

Wann der Verteidigungsminister vom Flug der Rakete wusste, wollte er Journalisten gegenüber nicht erklären. Nach Berichten der oppositionellen Gazeta Wyborcza habe er Anfang Mai bereits in den USA davon gesprochen.

Der Fall kann zu einem bedeutenden Vertrauensverlust der polnischen Armee und der nationalkonservativen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) führen, welche im Herbst die Parlamentswahlen gewinnen will.

"Jemand lügt hier"

Tomasz Siemoniak, ehemals Verteidigungsminister und Mitglied der konservativ-liberalen "Bürgerplattform" (PiS) verlangte am Freitag den Rücktritt von Mariusz Blaszczak mit den Worten: "Jemand lügt hier, jemand sagt in einer Angelegenheit, welche große Bedeutung hat, nicht die Wahrheit." Die Oppositionspartei hat die Staatsanwaltschaft beauftragt, hierzu zu ermitteln.

In Ostpolen wurden am 15. November zwei Personen nahe der Grenze getötet, als eine ukrainische Abfangrakete auf einen landwirtschaftlichen Betrieb fiel.

Polens Regierung unter Mateusz Morawiecki gilt als engagierter Anwalt der Ukraine und kauft Waffen vornehmlich aus den USA und Südkorea. Auf den Raketeneinschlag reagierte die Führung in Warschau verhalten, kurz nach dem Aufschlag war noch nicht klar, wer den Abschuss der Rakete verantwortete.

Zur Erinnerung: US-Präsident Joe Biden hat seit der russischen Invasion in der Ukraine mehrfach versichert, dass "jeder Inch des Nato-Territoriums" verteidigt werde. Dazu gehört rein formal auch das Waldstück bei Bydgoszcz im Nato-Mitgliedsland Polen.

Reichweite bis nach Deutschland

Der Marschflugkörper ist seit Anfang der Achtziger Jahren im Besitz der sowjetischen und später russischen Streitkräfte und sollte mit seiner Reichweite von 2500 bis 3000 Kilometern primär nukleare Sprengkörper transportieren.

Der CH-55-Marschflugkörper soll während der Attacke Russlands gegen ukrainische Ziele abgefeuert worden sein, bei der über solche Raketen auch aus Belarus abgeschossen wurden. Theoretisch hätte er auch Deutschland erreichen können.

Dass Polen über ein mit der Nato verbundenen Luftüberwachungssystems verfügt, hätte die Luftraumverletzung auch außerhalb des Landes in Nato-Zentralen bekannt sein müssen.

In Polen gibt es gerade auf oberster Ebene ein Gerangel geben – besagter General ist nahe an Staatspräsident Andrzej Duda, Blaszczak wiederum wirkt als Vertrauter von Jaroslaw Kaczynski, des mächtigen Chefs der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit (PiS) – Ausgang ungewiss.

Auch sonst bleiben viele Fragen. Zum einen technischer Natur – warum wurde der Flugkörper nicht abgeschossen? Warum suchte die Polizei und nicht das Militär im Dezember nach den Trümmerteilen? Wurde die Rakete versehentlich von den Russen in Richtung Westen gelenkt oder doch gezielt – als ein "Testballon", um die Abwehr der sogenannten Nato-Ostflanke zu prüfen?

Dieser Meinung ist der ehemalige Staatspräsident Bronislaw Komorowski, in Polen hat das Staatsoberhaupt Mitsprache in der Verteidigungspolitik und wird zum Oberbefehlshaber im Kriegsfall.

Sicherlich wäre es vollkommen verfehlt, mit Säbelrasseln auf das Geschoss zu reagieren, welches nur Schäden am Baumwuchs verursacht hatte, glücklicherweise. Doch dass dessen Reise von 500 Kilometern Luftlinie über Polen in den deutschen Medien eher ein Randthema war, mutet seltsam an.

Sollte der Flug der CH-55 heruntergespielt werden, nach dem Motto "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht"? Spielt Verdrängung eine Rolle, ein Abwehrmechanismus der Psyche, der angesichts einer drohenden Gefahr aktiviert wird? Es könnten weitere Geschosse sich "verirren" – wie damit umgehen?