"Der Versuch, Unrecht aufzudecken, wird vereitelt"

Ulrike Guérot, bei den 47. Römerberggesprächen im Mai 2019 im Chagall-Saal der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main. Bild: Dontworry, CC BY-SA 4.0

Interview mit Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Über Cancel Culture, unbequeme Bekenntnisse, trügerische Narrative und das Ende des demokratischen Zeitalters. (Teil 1)

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, geboren 1964 als Ulrike Hammelstein, hat einen dramatischen Wandel vom Presse-Liebling zur Persona non grata vollzogen.

Das ehemalige CDU- und spätere Grünen-Mitglied tritt seit den Neunzigerjahren für einen post-nationalen, föderalen europäischen Bundesstaat ein, der sich im Wesentlichen mit den Forderungen des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors deckt, für den sie von 1996 bis 1998 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war.

Als Verfechterin jener "europäischen Idee" und "radikale" politische Kommentatorin war die 58-Jährige ein Liebling der sogenannten Leitmedien. In der Coronakrise geriet Guérot durch ihre Maßnahmen-kritischen Äußerungen im Mainstream allerdings zunehmend in Misskredit.

Die mediale Diskreditierung von Ulrike Guérot kulminierte eine Krise später, bei ihrem Besuch der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" am 2. Juni, in der die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) zusammen mit den Journalisten Frederik Pleitgen und Natalie Amiri zum Thema Ukraine geladen war.

Ende März ist im Klarsicht-Verlag "Das Phänomen Guérot – Demokratie im Treibsand" erschienen, die Abschrift eines Gesprächs, das Guérot am 20. Juni 2022 mit dem Bildungsphilosophen Matthias Burchardt in Kiel geführt hat – knapp drei Wochen nach dem Lanz-Eklat.

Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews mit Ulrike Guérot: "Deutsche Abhängigkeit von den USA hat sich offenbar vergrößert".

Mit Telepolis hat Guérot darüber gesprochen, warum sie ihr Schicksal als paradigmatisch für einen antidemokratischen Zeitgeist empfindet, warum auf die Europäische Republik eine Weltregierung folgen muss und was sie zu den vielen Vorwürfen sagt – die ihr nicht nur vonseiten der Mainstream-Medien gemacht werden.

Frau Guérot, das Gespräch, welches das neue Buch dokumentiert, war nicht das Erste zwischen Ihnen und Herrn Burchardt. Sie hatten sich ja noch am 25. Mai 2022 in Köln beim Youtuber Gunnar Kaiser miteinander unterhalten. Wie sind Sie dann in Kiel gelandet? Und darf man eigentlich erfahren, wo?

Ulrike Guérot: Das war eine private Veranstaltung mit rund 270 Leuten, die sich durch das Corona-Geschehen hindurch getroffen haben. Ich erinnere mich noch gut, es war im Sommersemester 2022. Zu der Zeit bin ich in Einladungen ertrunken. Eigentlich hatte ich im April gesagt: "Jetzt ist Schluss". Ich war einfach müde, ich bin ja über Monate nur noch von Termin zu Termin gerannt.

Und die Shitstorms haben mich auch geschlaucht. Ich dachte, nach der Welle im März 2022 infolge meines kritischen Corona-Buches sei es vorbei. Das war aber nicht so. Dann kamen die offenen Briefe vom Studentenparlament (der Uni Bonn) und den Jusos.

Wegen des kontroversen Buchs "Endspiel Europa" von Ihnen und dem Geschichtsphilosophen Hauke Ritz.

Ulrike Guérot: Das kam erst später. Im Frühjahr 2022 ging es zunächst um das Corona-Buch, dann um meine öffentlichen Äußerungen zum Ukraine-Krieg. Ich hätte das "das Ansehen der Universität Bonn verletzt", hieß es bei den Jusos. Die Fachschaft und der AStA hatten mir ja schon während Corona ähnliche Vorwürfe gemacht. Ich habe immer allen angeboten, Gespräche zu führen.

Nur eine Delegation der Fachschaft ist damals darauf eingegangen. Ich habe ihr ein ganzes Dossier mit Material gegeben, das meine Position untermauern sollte. Dann hat sich das aber verlaufen. Bei den Jusos war es genauso, der Vorsitzende hat über Twitter kurz und knapp verlauten lassen, dass er "keine Zeit" für ein Gespräch mit mir hätte.

Auf die Situation an der Uni Bonn kommen wir noch zu sprechen. Zunächst aber noch einmal zurück zum "Phänomen Guérot". Im Buch erklären Sie, Ihre Person sei ein "Kristallisationspunkt für viele Sachen, die in dieser Gesellschaft ganz offensichtlich schieflaufen".

Dann folgt eine Aufzählung: anthropologisch, sozial, in Bezug auf Demokratie und Meinungspluralismus, den Wissenschaftsbetrieb und die gesellschaftlichen Umgangsformen. Sind das nicht nur viele Worte für das Prinzip Cancel Culture?

Ulrike Guérot: (Zögert) Ja, das kann man so sagen. Wobei: es ist meiner Meinung nach noch einmal was anderes, ob man gecancelt wird, weil man sagt, es gibt nur zwei biologische Geschlechter; oder ob man eine Diskussion über das Wegrutschen des Rechtsstaats unterdrückt. Nehmen Sie doch den (Corona-)Untersuchungsausschuss, der im Bundestag jetzt gerade abgelehnt wurde. Das hat mich sehr betrübt. Der Antrag kam von der AfD, weswegen er reflexartig abgelehnt wurde, aber inhaltlich ist nichts dagegen zu sagen.

Unabhängig von der AfD hat sich ja kürzlich auch eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Virologen Klaus Stöhr für eine Untersuchungskommission ausgesprochen. Und auch die CDU zeigte sich ja teilweise engagiert.

Ulrike Guérot: Genau. Es gab und gibt viele Forderungen nach einer Enquete-Kommission aus der bürgerlichen Mitte heraus, die aber bisher nicht zustande gekommen ist. In meinen Augen ist das die politische Ablehnung einer Sachdiskussion.

Gunter Frank hat in seinem neuen Buch benannt, womit wir es hier potenziell zu tun haben: "Das Staatsverbrechen". Wir müssen untersuchen, ob der Vorwurf eines übergriffigen Staates gerechtfertigt ist, allein schon, damit es nicht noch einmal passiert. Dabei ist die erste Frage an die Parlamentarier natürlich: "Teilen Sie die Ansicht, dass man das untersuchen muss?"

Ich habe mir die Reden der Bundestagsdebatte angeschaut, die der SPD zum Beispiel. Von Zweifel oder kritischem Hinterfragen war da keine Spur. Im Gegenteil, es hieß "die Regierung musste die Menschen eben schützen".

Nach allem, was inzwischen an Daten, aber auch an Tatsachen bzgl. der Einengung von Meinungskorridoren – etwa die Twitter-Files – bekannt ist, noch so plump zu argumentieren, finde ich hochproblematisch. Das Argument, man habe es nicht gewusst, ist inzwischen widerlegt. Im Sommer 2020 war eigentlich schon klar, dass Corona nicht so gefährlich ist wie gemeinhin behauptet, aber es wurde weitergemacht mit sehr einschneidenden Maßnahmen. Das ist also keine Meinungsdebatte mehr – sondern der Versuch, das Aufdecken von Unrecht zu vereiteln.

Anders liegen die Dinge ja in der Causa Uni Bonn. Sie sagen, es ging darum, sich einer unliebsamen Stimme zu entledigen. In ihrem neuen Buch beschreiben Sie sich als Opfer einer Kampagne von FAZ-Autor Markus Linden und dem Thinktank Zentrum Liberale Moderne, zu dem er enge Kontakte pflege. Wie ist der Sachstand im Fall Uni Bonn?

Ulrike Guérot: Nicht nur ich beschreibe die Geschehnisse und Zusammenhänge rund um den Plagiatsvorwurf in meinem neuen Buch "Demokratie im Treibsand", sondern etwa Marcus Klöckner hat in einem akribisch recherchierten Text "Die Treibjagd" auf den Nachdenkseiten gut herausgearbeitet, wie die immer gleichen Akteure – zum Beispiel Patrick Bahners von der FAZ und Markus Linden – mit stets amalgamierten Vorwürfen eine Plagiatsaffäre in den Medien so aufbauschen konnten, dass diese Vorwürfe letztlich zu einer Kündigung führten. Die inkriminierenden Artikel stehen jeweils in zeitlichem Zusammenhang mit der Publikation von zwei kritischen Büchern zu Corona und zur Ukraine, die ich im März und im Oktober 2022 veröffentlicht habe.

"Wer schweigt, stimmt zu" und "Endspiel Europa" ...

Ulrike Guérot: Genau. Viele Beobachter sehen einen Zusammenhang. Ich hoffe, zeitnah transparent machen zu können, was es wirklich mit dem "Plagiat" auf sich hat. Anders als es manche auf Twitter geschrieben haben, ist noch aber nichts entschieden.

Die Universität Bonn hat mir am 16. Februar zum 31. März 2023 gekündigt und ich wurde von meiner Arbeit entbunden. Die Kündigung ist suspendiert, weil ich dagegen geklagt habe. Das ist erst mal ein ganz normaler arbeitsrechtlicher Vorgang. Die gerichtliche Entscheidung wurde inzwischen auf den 13. September 2023 terminiert.

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