Zwischenfälle mit russischen Raketen: Wie realistisch ist ein Weltkrieg "aus Versehen"?

Ein CH-55-Marschflugkörper auf dem Gelände des ukrainischen Luftwaffenmuseums in Friedenszeiten. Archivbild: George Chernilevsky / Public Domain

Polens Regierung in Erklärungsnot: Einschlag eines russischen Marschflugkörpers soll vertuscht worden sein. Auf Verdachtsfall wenige Wochen zuvor gab es verstörende Reaktionen.

Die polnische Regierung ist weiter in Erklärungsnot, weil erst Ende April bekannt wurde, dass bereits im Dezember eine russische Rakete auf dem Territorium des Nato-Landes eingeschlagen war. Offenbar gingen Militärs und Politiker von einem Versehen aus. Demnach war es ein "Blindgänger" des russischen Feldzugs gegen die Ukraine, die zwar auch von Polen unterstützt wird, aber kein Nato-Partnerland ist.

Ein MDR-Reporter berichtet inzwischen von einer Art "Raketentourismus" am Einschlagsort in der Nähe eines nordpolnischen Dorfes, das nun "seine 15 Minuten Ruhm" habe. Auf politischer Ebener wird die Angelegenheit weiterhin ernst genommen.

Auch deutsche Medien werfen die Frage auf, was die Luftverteidigung der Nato im Ernstfall taugt – und ob die polnische Regierung "mauert", weil in wenigen Monaten Wahlen anstehen. Sowohl die nationalkonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) als auch die polnische Armee müssen Vertrauensverluste fürchten. Hochrangige Militärs sehen sich mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert.

Vom Radar verschwunden

Soweit bisher bekannt, hatte Polens Luftüberwachung den Marschflugkörper vom Typ Ch-55 auf dem Radar verfolgt, jedoch nahe der Stadt Bydgoszcz aus den Augen verloren. Die Raketenteile seien bis zum 19. Dezember vergeblich von Polizeipatrouillen und einem Hubschrauber gesucht worden, hieß es. Vor der Öffentlichkeit wurde der Vorfall zunächst geheim gehalten. Dann entdeckten Spaziergänger in einem Waldstück nahe dem Dorf Zamość die Trümmer.

Wie lange Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak schon davon wusste, wollte er gegenüber Medien anschließend nicht erklären. Er beschuldigte General Tomasz Piotrowski, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ihn nicht über den Marschflugkörper informiert zu haben – und forderte dessen Rücktritt.

Wegen eines anderen Zwischenfalls mit einem russischen Kampfflugzeug, das sich über dem Schwarzen Meer einem polnischen Patrouillenflugzeug genähert hatte, hat Polens Außenministerium Anfang Mai den russischen Botschafter in Warschau einbestellt. Dem Diplomaten sei eine Protestnote gegen das "provozierende und aggressive Verhalten der russischen Seite" überreicht worden, teilte der Sprecher des Außenministeriums via Twitter mit.

Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes hatte sich das russische Su-35-Jagdflugzeug dreimal der polnischen Maschine vom Typ Let L-410 genähert, die auf einem Patrouillenflug für die EU-Grenzschutzbehörde Frontex unterwegs war. Die Su-35 soll dabei "aggressive und gefährliche Manöver" ausgeführt und Turbulenzen verursacht haben. Das klingt nach einer absichtsvollen Provokation; anders als der Raketeneinschlag im Wald.

Wollte Polens Regierung eine mediale Kriegshysterie vermeiden?

Ein weiterer möglicher Grund für das "Mauern" im erstgenannten Fall liegt aber auf der Hand: Mitte November 2022 hatten westliche Medien und Politiker schon fast den dritten Weltkrieg ausgerufen, nachdem eine mutmaßlich russische Rakete auf polnischem Territorium eingeschlagen war. Zwei Menschen waren dabei ums Leben gekommen. "Ob ein Versehen oder nicht – dies ist ein bewaffneter Angriff auf Nato-Territorium!" befand damals die Bild. Auch vom "Bündnisfall" war die Rede.

Polens Präsident Andrzej Duda betonte damals aber, es gebe aber keinen Beweis dafür, dass die in Russland hergestellte Rakete auch von dort abgefeuert worden sei. Einen gezielten Angriff auf sein Land schloss er sogar aus. Wenig später galt dann sogar als wahrscheinlich, dass es eine ukrainische Flugabwehrrakete gewesen war.

Wenige Tage danach entließ die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) einen Mitarbeiter, der eine übereilte Meldung über den Raketeneinschlag im polnischen Grenzdorf Przewodow verfasst hatte. Zum Glück hatte das Pentagon weder diese Meldung noch entsprechende Tweets von FDP-Politikern für bare Münze genommen.

Wenige Wochen später schlug im Dezember 2022 die wohl tatsächlich russische Rakete in dem Waldstück nahe dem nordpolnischen Dorf Zamość ein. Für polnische Offizielle und Militärs, die sich jetzt mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert sehen, scheint aber entscheidend gewesen zu sein, dass sie nicht von einem gezielten Angriff ausgingen.