100 Jahre Türkei ohne Erdogan?

Entscheidende Weichenstellungen stehen in der Türkei an. Kommt es zur Wiederbelebung eines weltlich geprägten Staates? Ein vorsichtiger Ausblick.
Am Internationalen Frauentag demonstrierten Tausende von Frauen im Zentrum von Istanbul für ihre Rechte. Thema war daneben auch die Inkompetenz der Behörden angesichts der Folgen des schrecklichen Erdbebens im Februar mit über 50.000 Toten.
Doch zum 8. März, in der Türkei kein Feiertag, finden in der größten Stadt der Türkei bereits seit 2003 Protestmärsche statt. Den Demonstranten war es in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge verboten, die Touristenmeile Istiklal mit dem Blick auf den zentralen Taksimplatz zu betreten.
Hunderte Polizisten blockierten den Zugang ab dem Morgen und die nächste U-Bahnstation stellte den Betrieb ein. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Demonstranten auseinanderzutreten und 30 Personen wurden festgenommen.
Eine Frau baut eine schlagkräftiges Oppositionsteam
Kurz zuvor hatte die einzige bedeutende Parteiführerin und berühmteste Politikerin des Landes, Meral Aksener, eine scharfe Erklärung verbreitet, Erdoğan aus dem Amt zu entfernen. Ihre nationalistische IYI-Parti ist Teil der oppositionellen Sechs-Parteien-Koalition, die Erdoğan die Stirn bietet.
Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Kandidatenfindung des Bündnisses und verbreitete eine Erklärung, dass sie den relativ jungen Bürgermeister von Istanbul Ekrem Imamoglu (52), aber nicht dessen CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu (74) unterstützen würde.
Dieser lehnte zunächst – ebenso wie sein populärer Parteifreund in Ankara Mansur Yavas – ab und unterstützte stattdessen die Kandidatur des betagten Parteichefs, obwohl dieser in Umfragen schlecht abschnitt. Die CHP ist eine säkulare, republikanische Kraft, die vor der Ära Erdoğan oft Staatsoberhäupter und Regierungen stellte.
Jubel brach los im Lager Erdoğans und seiner regierenden AKP – die Opposition sei gespalten, die IYI-Partei werde aus der Koalition aussteigen. Es wurden sogar Gerüchte laut, Aksener sei eine Geheimagentin von Erdoğan. Sie verstummten erst, als das Oppositionsbündnis am Abend des 6. März auch Kilicdaroglu als gemeinsamen Kandidaten bekannt gab – jedoch flankiert von sieben Vizeanführern, darunter neben den anderen Parteiführern die beiden populären Bürgermeister.
Diese populären Figuren, die die Siegeschancen gegen Erdoğan erhöhen, verdanken ihren Platz in der ersten Reihe Aksener.
Erdoğans AKP wankt und startet Rettungsversuche
So wankt nach 20 Jahren an der Macht die Vormachtstellung von Erdoğans AKP. Erstmals seit Langem könnte eine Wahl wirklich verloren gehen. So ist laut einer Umfrage des Instituts ORC [1] die Bewertung von Kilicdaroglu bei 56,8 Prozent, die von Erdogan bei 43,2 Prozent. Dazu kommt, dass 60 Prozent der Menschen in der Türkei unmissverständlich erklären [2], dass sie Erdogan niemals ihre Stimme geben werden.
Die Erfolgsbilanz des Präsidenten ist sehr mager, die Türken stöhnen vor allem unter einer grassierenden Inflation von 85 Prozent, dem höchsten Wert seit 1998.
Der Präsident versucht deshalb seinen Posten mit sozialen Vorhaben zu retten, mit höheren Gehältern, Schulen und anderem. Nach dem schweren Erdbeben versuchte er, als Retter der Nation aufzutreten, die trauernden Türken um sich zu scharen und versprach finanzielle Unterstützung für die Opfer. Parallel präsentiert er sich an Staatsmann in der Außenpolitik, vermittelnd zwischen Moskau und Kiew oder kompromisslos beim Beitritt von Finnland und Schweden.
Opposition hat viel zu kritisieren, aber eine Achillesferse
Doch Kilicdaroglu hat bei der kurzsichtigen AKP-Regierungspolitik viel Munition, bei dieser Selbstdarstellung Sand ins Getriebe zu steuern. Gerade, wenn es um die Erdbebenfolgen geht. Die AKP hat acht sogenannte Bauamnestien durchgeführt, bei denen man Schwarzbauten durch Zahlung einer Gebühr legalisieren konnte.
Davon wurde reger Gebrauch gemacht und über die Hälfte der Gebäude in der Erdbebenregion wurden in der Ära Erdogan nach dem Millennium errichtet. Genau hier kam es wegen der Bauweise zu erheblichen Schäden, was den Ruf der AKP nachhaltig schädigte.
Außenpolitisch versucht Kilicdaroglu ebenfalls eigene Akzente zu setzen. Er will die unter Erdogan verschlechterten Beziehungen der Türkei zur EU normalisieren und wieder Verhandlungen über einen EU-Beitritt des Landes aufnehmen. Dennoch ist das außenpolitische Konzept der Opposition ihre Achillesferse.
Bei der Vermittlung im Ukrainekrieg, bei den Beziehungen zu Russland oder in Bezug auf die Situation im benachbarten Syrien existiert noch keine konkrete Strategie. Man versucht sich damit herauszureden, dass die erste Priorität Erdoğans Ablösung und eine demokratische Reform sei – dann könne man sich einer neuen Außenpolitik widmen.
Die Stellung der türkischen Frauen ist traditionell stark
Zu Beginn wurde der Sieg Erdoğans 2002 als Rache der Islamisten für das 20. Jahrhundert bezeichnet. Der von Atatürk im letzten Jahrhundert geschaffene Staat war betont säkular und wurde auch so bis zum Millennium regiert. Die AKP änderte diese Situation tatsächlich radikal. Wurde noch 1999 eine Abgeordnete, die zum ersten Mal in der Geschichte im türkischen Parlament mit Kopftuch erschien, ausgebuht und des Saals verwiesen, waren 2013 gleich vier weibliche Abgeordnete mit Kopftuch vertreten, woran niemand mehr Anstoß nahm.
Die Beteiligung von Frauen an der Politik ist in der Türkei nichts Neues. Das Frauenwahlrecht existiert bereits seit 1934 und damit zehn Jahre länger als in Frankreich. Von 1993 bis 1996 war der Chefposten in der Regierung mit Tansu Ciller erstmals von einer Frau besetzt, die eingangs erwähnte Meral Aksener war von 1996 bis 1997 Innenministerin.
Die Wählerinnen werden auch ein entscheidendes Wort mitreden, ob bei den Wahlen die Opposition eine Regierungschance erhält oder sich die Türkei unter Erdogan weiter islamisiert und möglicherweise auf eine Diktatur zusteuert.
So bestimmen die Wählerinnen und Wähler bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nicht nur über ein neues Führungspersonal. Es werden entscheidende Weichen gestellt, in welche Richtung das Land am Bosporus in den nächsten Jahren gehen wird.
Und ob es bei der Hundertjahrfeier der modernen Türkei im Oktober dieses Jahres eine Gedenkfeier gibt, wo der Geist des Staatengründers Atatürk wieder zu einem aktiven Pfeiler der Gesellschaft wird – oder dieser in einer religiös bestimmten Gesellschaft zur reinen Museumsware mutiert.
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[2] https://t24.com.tr/yazarlar/mehmet-y-yilmaz/taslar-kimin-basina-dusecek,38980
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