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11 000 Euro pro Tag, um Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren

Aquarius. Foto: Ra Boe / Wikipedia. Lizenz: CC BY-SA 3.0/de

Der Kapitän Klaus Vogel und der Verein SOS Mediterranee retten mit ihrem Schiff "Aquarius" im Mittelmeer Migranten

Die Abstände zwischen den Einsätzen werden kürzer. Alle paar Tage ist eine Lebensrettung nötig von Migranten, die in kleinen instabilen Schlauchbooten im Mittelmeer treiben. Erst vor wenigen Tagen hat das deutsche Rettungsschiff "Aquarius" 169 Menschen an Bord genommen und in der sizilianischen Hafenstadt Trapani sicher an Land gebracht. Nach einem kurzer Versorgungsaufenthalt und Crewwechsel lief es direkt wieder aus zur nächsten Mission.

Es ist Sommer. Um zu fliehen, eine bessere Jahreszeit, als der Winter. In Massen begeben sich zur Zeit Menschen von den nordafrikanischen Küsten aus auf den Weg Richtung Europa. Die Schließung des Landweges, die sogenannte Balkanroute, treibt sie aufs Wasser und damit vielfach in den Tod. Flucht ohne Entkommen.

Der Dampfer kreuzt in den Gewässern zwischen libyscher Küste und Sizilien auf der Suche nach den kleinen überfüllten aufblasbaren Schwimminseln, wo Platz für vielleicht 20 Menschen besteht, oft aber 100 und mehr darauf kauern, die meist nicht schwimmen können, kaum noch Trinkwasser haben und denen oft der Treibstoff für den Außenbordmotor ausgegangen ist.

Die "Aquarius" ist wenig bekannt und erst seit Februar 2016 im Mittelmeer unterwegs. Doch inzwischen hat sie bereits über 2700 Menschen vor dem sicheren Untergang gerettet. Betrieben wird das Schiff von dem deutsch-französisch-italienischen Verein SOS Mediterranee, einer zivilgesellschaftlichen NGO. Deren Gründer ist Klaus Vogel, von Beruf Kapitän, 59 Jahre alt - und immer wieder an Land, um für die materielle Basis des Projektes zu sorgen.

Menschen retten, ist teuer, sehr teuer

Das humanitäre Projekt, kaum gestartet, könnte schon bald wieder am Ende sein. Denn Menschen retten, ist teuer, sehr teuer. Die MS "Aquarius" ist gechartert, was in der Regel nur mitsamt einer Crew der Reederei möglich ist. Daneben gibt es die Rettungscrew, die SOS Mediterranee zusammen mit den Ärzten ohne Grenzen stellt. Der Schiffskapitän der Reederei navigiert das Fahrzeug. Wo es hinfährt und welche Rettungen vorgenommen werden, das bestimmt der Rettungskapitän des Charterers mit seiner Crew. Das ist Klaus Vogel oder sein Vertretungskapitän.

Für Charter, Ausstattung, Anschaffung von Schwimmwesten, Treibstoff, Löhne und so weiter fallen alles in allem Kosten von 11 000 Euro am Tag an, 330 000 Euro im Monat. SOS Mediterranee hatte vor dem ersten Auslaufen eine Million Euro an Spenden eingesammelt. Die sind längst aufgebraucht, neues Geld floss zwar nach, aber die Reserven reichen nur ein paar Wochen im Voraus. Sollte der Spendenfluss versiegen, wäre im Herbst wieder Schluss mit den Einsätzen.

Die "Aquarius" ist ein ehemaliges Fischereischutzboot von 77 Metern Länge, orangenfarben angestrichen und so eingerichtet, dass es mehrere hundert Menschen an Bord nehmen kann. Einmal waren es 600. Über 100 hatte die Crew selber aus dem Wasser geholt, die anderen wurden von weiteren Schiffen übernommen, um sie in einem Sammeltransfer an Land zu bringen. So können die anderen Rettungsschiffe im Einsatz bleiben.

Verfahren wegen bandenmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise

Koordiniert werden die Einsätze von der italienischen Rettungsleitstelle, dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC). Mit ihr arbeiten auch die deutschen Helfer der "Aquarius" zusammen. Ihr melden sie, wenn sie ein Migrantenboot entdeckt haben und geben die Zahl der Aufgenommenen durch. Manchmal ist es auch umgekehrt: Das MRCC meldet ihnen ein Boot, das in Seenot ist, damit die "Aquarius" dort hinfährt und hilft. Das MRCC entscheidet schließlich, wo die Geretteten hingebracht werden und bereitet die Häfen auf die Ankunft vor.

Klaus Vogel hat das MRCC in Rom besucht und das Rettungsprojekt von SOS Mediterranee vorgestellt. Die Zusammenarbeit mit der italienische Behörde, die dem zivilen Transportministerium untersteht, sei sehr gut.

Ein Konfliktfall, wie der um die Cap Anamur, scheint damit nicht zu drohen. 2004 hatte das deutsche Hilfsschiff mit seinem Kapitän Stefan Schmidt 37 afrikanische Migranten aus Seenot gerettet und an Bord genommen. Die italienische Küstenwache verhinderte das Einlaufen des Schiffes. Nach zwei Wochen erklärte Schmidt den Seenotfall und lief den Hafen von Agrigent ohne Erlaubnis an.

Er, sein erster Offizier und der Vorsitzende des Hilfskomitees Cap Anamur, Elias Bierdel, wurden zunächst eine Woche eingesperrt, das Schiff konfisziert. Danach wurde den dreien der Prozess gemacht - wegen "bandenmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise in besonders schwerem Fall". Nach drei Jahren Verhandlungsdauer wurden sie überraschend freigesprochen.

Aber es war ein Exempel statuiert. Andere Kapitäne und Schiffe sollten abgeschreckt werden, ihrerseits Migranten nach Europa zu bringen. Das Vorgehen der Behörden gegen die berühmte Cap Anamur und seinen Kapitän war von der italienischen wie von der deutschen Regierung gedeckt. Dabei hatte Schmidt getan, wozu ein Kapitän auch gesetzlich verpflichtet ist - Menschen in Seenot zu retten. Hätte er das unterlassen, hätte ihm eine mehrjährige Haftstrafe gedroht. Die Cap Anamur aber gibt es seit dem nicht mehr.

Cap Anamur

12 Jahre später gibt es die "Aquarius" mit dem Kapitän Klaus Vogel, dessen Geschichte auch mit der Cap Anamur zu tun hat.

Die hatte von 1979 bis 1986 Vietnamesen aus dem südchinesischen Meer aufgenommen, wohin sie vor der Situation in ihrem Land nach einem jahrlangen Bürgerkrieg geflohen waren. Initiator der Aktion war der Deutsche Rupert Neudeck, der am 31. Mai 2016 im Alter von 77 Jahren gestorben ist. Auch Klaus Vogel war in jenen Jahren durchs südchinesische Meer geschippert, auf Handelsschiffen der hamburger Reederei Hapag-Lloyd. Sie hatten die Anweisung der Eigner, sich von den Küsten fernzuhalten, also den Menschen in ihren schwimmenden Nussschalen aus dem Weg zu gehen. Über 200 000 sind damals ertrunken. Etwa 10 000 hat die Cap Anamur gerettet.

Diese Erfahrung wird bei Klaus Vogel lebendig, als sich im nahen Mittelmeer ähnliche Tragödien abspielen. Vor allem, nach dem die italienische Regierung ihr Rettungsprogramm "Mare Nostrum" (zu Deutsch: Unser Meer) im Herbst 2014 eingestellt hat, weil sich die anderen europäischen Länder nicht in dem Maße beteiligten, wie es nötig gewesen wäre.

Das war für Vogel der letzte Impuls, der fehlte: "Da muss man was tun. Das kann man nicht akzeptieren." Im Mai 2015 gründete er zusammen mit ein paar Dutzend Mitstreitern in Berlin den internationalen Verein "SOS Mediterranee", das Fundament des Projektes. Ziel war es, ein Schiff zu kaufen, um Menschen zu retten. Das hat nicht geklappt, jetzt chartern sie eines - die "Aquarius". Wie lange sie noch in Sachen Humanität unterwegs sein kann, bleibt ungewiss.

De Maiziere: "Wenn wir jeden retten wollten, würden wir die Geschäfte der Schlepper betreiben"

Eigentlich ist Menschenretten Aufgabe von Regierungen. Tatsächlich stehen die Retter in eigenem Auftrag mit ihrem Engagement im Widerspruch zur Politik auch der Bundesregierung. Schutzsuchende von Deutschland und Europa fernzuhalten, das scheint die eigentliche Ressortaufgabe von Innenminister Thomas de Maiziere zu sein. "Wenn wir jeden retten wollten, würden wir die Geschäfte der Schlepper betreiben", hat der einmal gesagt. Ein genau so eindeutiges wie erbarmungsloses Bekenntnis, nicht jeden retten zu wollen.

Klaus Vogel stört aber auch die behauptete Logik dieser Aussage. Nicht, indem man Menschen rettet, dient man den Schleppern. Der Zusammenhang verhalte sich umgekehrt: Die Politik der Europäischen Union, wie der Bundesregierung, sichere Landwege zu schließen, sorge erst für das Geschäftsmodell des Schlepperwesens. Denn das treibt die Migranten in die Arme der skrupellosen Menschenhändler. Gäbe es offene Grenzen, gäbe es keine Schlepper.

Von den Geretteten wissen die Retter, wie die kriminellen Schlepper mit den Fluchtwilligen umgehen, die sich ihnen anvertrauen und viel Geld für einen Platz auf einem Schlauchboot bezahlen. Oft werden sie mit Gewalt gezwungen, in die Boote zu steigen und loszufahren, selbst wenn das Meer unruhig ist. Das Geschäft muss schließlich laufen. Auf die Boote mitnehmen dürfen sie nichts. Nur das, was sie auf dem Körper tragen, kein Gepäck, keine Schuhe, keine Telefone.

Im Schatten ihrer verlautbarten Politik betreibt die Bundesregierung aber ein Doppelspiel. Einerseits wirkt sie aktiv mit, Migranten von Europa fernzuhalten - andererseits sind im Mittelmeer Schiffe der Bundesmarine unterwegs, eigentlich um Schlepperboote zu zerstören, und doch bergen sie auch Menschen aus Seenot. Darüber spricht die Bundesregierung in der Regel nicht. Diese Einsätze sind mit einem Tabu belegt, um die offizielle Migrationspolitik nicht hinterfragen lassen zu müssen. Die zivile "Aquarius" hat schon mehrfach Gerettete auch von diesen Militärschiffen aufgenommen, um sie an Land zu bringen.

Vogel: "Jedes Schlauchboot ist von dem Moment an, in dem es ablegt, in Seenot"

Mit Schlauchbooten kann man das Mittelmeer nicht überqueren, sagt Klaus Vogel: "Jedes Schlauchboot ist von dem Moment an, in dem es ablegt, in Seenot und die Menschen darauf in Lebensgefahr." Welcher Dramatik die Migranten ausgesetzt sind, ist selbst ihm, dem erfahrenen Seemann, erst durch die Rettungseinsätze bewusst geworden. Erlebnisse, die einen nicht mehr loslassen. Zum Beispiel, wenn trotz Rettungsbemühungen Menschen vor den Augen der Retter ertrinken.

Im Juli erlebte die Besatzung eine der dramatischsten und traurigsten Bergungsaktionen. Etwa 100 Menschen rettete sie aus einem Schlauchboot, das am Untergehen war, vollgelaufen mit Wasser. Hilfe in letzter Sekunde - doch dann das Entsetzen: Im Boot schwammen 22 Leichen. Ertrunken an Bord, mitten unter den übrigen Schiffbrüchigen. Es war die Hölle auf Erden, auf die die Helfer stießen.

Die 22 Toten erzählen eine besonders tragische Geschichte. 21 von ihnen waren Frauen. Die Männer auf den Schlauchbooten wollen Frauen und Kinder besonders beschützen, erzählt Klaus Vogel, deshalb dürfen sie in der Mitte auf dem Boden sitzen. Für die Männer bleibt auf dem überladenen Gefährt meist nur ein Stehplatz am Rand. Doch wenn Wasser eindringt, wird die sichere Mitte zur tödlichen Falle. Dort ist es am tiefsten und die Menschen ertrinken. Und alle auf dem Boot müssen das mit ansehen, können nicht helfen, können nicht ausweichen, in Todesangst, weil sie nicht wissen, ob sie selber überleben werden.

Die "Aquarius" hat auch die Toten mit nach Sizilien genommen und den Behörden übergeben. Sie wurden auf verschiedenen Friedhöfen beerdigt, viele namenlos.

Die Crew führt eine Statistik der Geretteten: Über zehn Prozent der Migranten sind mittlerweile unbegleitete Kinder, ohne Eltern auf dem Weg von Afrika nach Europa. Offensichtlich befinden sich ganze Gesellschaften in Auflösung, hören Familien auf zu bestehen.

Einen Gedanken will der Mann, der von Berufs wegen rund um den Globus gefahren ist, noch loswerden in dieser ganzen aufgeregten Debatte um die Migranten. "Für Waren", sagt Klaus Vogel, "existieren keine Grenzen, sie dürfen überall hin. Und Geld sowieso, das fließt zu jeder Zeit ungestört an jeden Ort der Erde. Nur Menschen dürfen nicht hingehen, wohin sie wollen. Da kann etwas nicht stimmen mit der Konstruktion der Welt."


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