11/9: Anhaltendes Trauma
Noch vier Jahre nach den Anschlägen lassen sich Nachwirkungen in den Gehirnen von Menschen nachweisen, die sich in der näheren Umgebung der WTC-Türme befanden
Nach einer Studie von Neurobiologen der University Cornell und der University of Stanford können Traumata, die normalerweise durch die Bedrohung des Lebens des Betroffenen selbst oder anderen ausgelöst werden und intensive Gefühle der Angst, des Schreckens oder der Hilflosigkeit bewirken, das Gehirn nachhaltig verändern. Das geschieht nicht nur bei Menschen, bei denen psychische Folgen wie eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert werden können, sondern diese Veränderungen sind auch bei Menschen durch Brainscans nachweisbar, die völlig unbelastet wirken, aber dennoch bei bestimmten emotionalen Stimuli überreagieren. Untersucht wurden 22 gesunde Menschen, die sich am 11.9. im Umkreis von etwa 2 Kilometern von den WTC-Türmen aufgehalten hatten.
Kurz nach dem 11.9. haben angeblich Hunderttausende von Amerikanern durch die Anschläge ein posttraumatisches Stresssyndrom (PTSD) bzw. eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Nicht weil sie unmittelbar von den Anschlägen betroffen oder in der Nähe waren, sondern weil sie zu deren Zeugen an den Bildschirmen wurden, auf denen die traumatisierenden Szenen der einschlagenden Flugzeuge wieder und wieder zu sehen waren (Traumatisierung durch Medienbilder?). Kurzfristige Auswirkungen von Terroranschlägen konstatierten israelische Forscher. Sie stellten landesweit in Israel nach Terroranschlägen zunächst einen Rückgang der Verkehrsunfälle, dann aber einen starken Anstieg fest. Nach wenigen Tagen lassen sich aber keine Folgen für die Gesamtbevölkerung mehr feststellen (Wie reagiert die Bevölkerung eines ganzen Landes auf Terroranschläge?). Nach einer weiteren Studie müsste nicht einmal ein reales Ereignis vorliegen. In den USA gab es vor dem 11.9. häufig Berichte von Menschen, die angaben, von Aliens entführt worden zu sein. Sie zeigten angeblich die gleichen posttraumatischen Belastungsstörungen wie Vietnamveteranen (Shut up and sleep with me).
PTSD ist eine Angststörung, die auch von Depressionen begleitet werden kann. Sie tritt innerhalb weniger Monate nach einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder einer Katastrophe auf und äußert sich unter anderem in wiederkehrenden Erinnerungen oder Inszenierungen des Ereignisses. Die Menschen vermeiden Situationen und Aktivitäten, die das traumatische Ereignis wiederkehren lassen könnten. Weniger genau wurden bislang die langfristigen Folgen von erlittenen Traumata bei augenscheinlich gesunden Menschen untersucht, obgleich nach epidemiologischen Studien in den USA mehr als 50 Prozent der Frauen und mehr als 60 Prozent der Männer mindestens einmal einem traumatischen Erlebnis ausgesetzt waren.
Bei Menschen mit einer PTSD wurden mit bildgebenden Verfahren vornehmlich eine verstärkte Aktivität der Amygdala gefunden, wenn man diesen beispielsweise Bilder von Gesichtern zeigt, die starke Emotionen zum Ausdruck bringen. Die Amygdala gehört zum limbischen System, spielt eine wichtige Rolle bei der emotionalen Bewertung von Erfahrungen und damit auch bei der Verknüpfung von Ereignissen mit Angst. Schon bei einer vorhergehenden Untersuchung mit funktioneller Magnetresonanztomographie reagierte die Amygdala bei Menschen, die am 11.9. in Manhattan gewesen sind, wenn sie Jahre danach daran erinnert wurden.
Die Wissenschaftler gingen bei ihrer aktuellen Studie der Hypothese nach, dass bei gesunden Menschen, die sich relativ nahe an den WCT-Türmen am 11.9. befanden, eine stärkere Aktivität in der Amygdala zu beobachten sein müsse, wenn sie Bilder von angstvollen Gesichtern sehen, als bei Menschen, die sich weit entfernt fanden. Tatsächlich zeigte sich bei der Auswertung der fMRI-Scans, dass die 11 Versuchspersonen, die sich damals in einer Entfernung von etwa 2 km befanden, nach vier Jahren sehr viel stärker auf die Bilder von angstvollen Gesichtern – im Unterschied zu ruhigen Gesichtern - reagierten, als die 9 Versuchspersonen der Kontrollgruppe, die erst vor kurzem nach New York gezogen waren und sich am 11.9. mindesten 300 km entfernt vom Anschlagsort aufgehalten hatten. Alle Versuchspersonen wurden auf psychiatrische, medizinische und neurologische Krankheiten sowie auf Anzeichen von PTSD untersucht und waren gesund.
Je näher sich die Menschen am Anschlagsort befunden hatten, desto eher berichteten sie von Symptomen, die mit traumatischen Erlebnissen verbunden sind, wie leichter Erregbarkeit, Schlafstörungen, Vermeidung, nach Manhattan zu gehen, oder belastende Träume. Nicht nur die Nähe, sondern auch die Intensität scheint eine Rolle zu spielen. Diejenigen, die die Anschläge vom 11.9. als das schlimmste Trauma bezeichneten, das sie je erlebt hatten, zeigten auch die stärkste Aktivität in der Amygdala. Die Telepräsenz durch Medienbilder scheint also im Unterschied zu der erwähnten Studie am Beginn des Artikels keine großen, zumindest keine langfristigen Auswirkungen zu haben, da Nähe und damit eine als unmittelbar befundene Bedrohung für Langzeitwirkungen ausschlaggebend zu sein scheint.
Erstaunlich ist, dass sich das erfahrene Trauma mehr oder weniger im Alltag verdeckt neurobiologisch eingetragen hat und weiterhin, wenn auch mit der Zeit schwächer werdend, nach bestimmten, aber unspezifischen Stimuli emotionale Reaktionen verursacht, die sich auf das Verhalten auswirken und nicht kontrolliert werden können. Die Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass auch andere Stresserlebnisse sich derart niederschlagen können. Interessant wäre es, solche Studien in Ländern wie derzeit Afghanistan, Irak, Somalia oder auch Sudan durchzuführen, in denen viele Menschen, auch wenn sie nicht direkt Opfer oder Täter sind, mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert werden und in ständiger Unsicherheit leben. Leiden Kämpfer und Opfer eher an posttraumatischen Belastungsstörungen, so graben sich vermutlich durch Kriege und Bürgerkriege, durch die alltägliche erlebte Gefahr und Gewalt verursachte Ängste buchstäblich in die Gehirne ein und können so Nationen noch viele Jahre nach einem Ende der Auseinandersetzungen beeinflussen, auch wenn eine Situation nichts mit dem Ursprungstrauma direkt zu tun hat.
Barbara Ganzel, B. J. Casey, Gary Glover, Henning U. Voss, Elise Temple: The Aftermath of 9/11: Effect of Intensity and Recency of Trauma on Outcome, in Emotion, 2007, Vol. 7, No. 2, 227–238