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15-Minuten-Städte: "Klima-Lockdown" oder Lebensqualitäts-Booster?

Die Idee: Alles Wichtige in der smarten, neuen Stadt soll innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder auf dem Fahrrad erreichbar sein. Die nächste Debatte, die die Gesellschaft spaltet.

"Grüne wollen aus Hamburg 104 Dörfer machen!", titelte [1] die Zeitung mit den großen Buchstaben Ende Februar, Dachzeile: "Damit wir unsere Autos abschaffen". Nun ist die Bild nicht unbedingt für nuancierte Betrachtungen bekannt. Doch gerade die sind vonnöten, wenn es um das hoch kontroverse Thema 15-Minuten-Städte geht, das mittlerweile auch Deutschland erreicht hat.

Die Viertelstunden-Idee

Die eingangs genannte Schlagzeile bezieht sich auf den Hamburger Landesparteitag am 25. Februar. Dort haben die Grünen-Mitglieder ihre Absicht erklärt [2], die urbane Infrastruktur der Hansestadt so umzubauen, dass "Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung, Freizeitangebote, Bildungsstätten und idealerweise auch de[r] Arbeitsplatz" innerhalb einer Viertelstunde per Fahrrad oder zu Fuß erreichbar sind.

Als Vorbild dienen europäische Metropolen wie Paris und Barcelona. Die Hamburger Grünen erarbeiten entsprechende Ansätze seit Anfang des vergangenen Jahres, in der "Planwerkstatt 2030 [3]".

Den Vorwurf der Auto-Feindlichkeit weist der stellvertretende Landesvorsitzende Leon Alam, der den Plan für ein "lebenswertes Hamburg für alle" Ende Februar vorgestellt hatte, gegenüber t-Online zurück [4]. Stattdessen formuliert der 26-Jährige positiv: Man wolle den ÖPNV ausbauen und attraktiver gestalten sowie den Weg zur generationenfreundlichen Stadt beschreiten, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weist [5].

Es sind die ersten Vorboten einer Debatte, die noch deutlich an Fahrt gewinnen könnte. Das zeigt unter anderem der Blick ins Vereinigte Königreich.

Dort droht eine (weitere) Spaltung der Gesellschaft, in der sich "Öko-Faschisten" und "Verschwörungsideologen" unversöhnlich gegenüberstehen: Die einen berufen sich auf Klimaschutz und kollektive Harmonie, die anderen auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Die einen sehen sich als Kämpfer für einen besseren materiellen Lebensstandard, die anderen als Wächter ideeller Werte und Normen.

Handelt es sich nur um ein Missverständnis zwischen Fortschrittsblinden und Rückständigen? Welche Argumente bringen die Kritiker und Befürworter vor? Kehren wir dazu einmal zurück zum Ursprung der Viertelstunden-Idee.

Die "radikale" Überwindung des Öl-Zeitalters

Das Konzept der Viertelstunden-Stadt findet 2016 in einem Artikel [6] des kolumbianisch-stämmigen französischen Stadtplaners Carlos Moreno erstmals Erwähnung.

Im auf die zeitliche Dimension ausgerichteten "Chrono-Urbanismus" erkennt der Sorbonne-Professor die Chance, das "Paradigma des Öl-Zeitalters" zu überwinden [7]. Statt dem Auto soll wieder der Mensch im Zentrum der Stadtplanung stehen. Einzige Voraussetzung: die "radikale Transformation unseres Lebenswandels".

Moreno zufolge soll die 15-Minuten-Stadt die sechs "essenzielle[n] urbane[n] Sozialfunktionen" "Leben, Arbeiten, Versorgen [i.S.v. Ernähren], Kümmern, Lernen und Vergnügen" mit Hilfe dreier Merkmale in Einklang bringen, die er in einem TED-Talk vom November 2020 beschreibt1 [8]:

Erstens sollte der Rhythmus der Stadt den Menschen folgen, nicht den Autos [...]Zweitens sollte jeder Quadratmeter vielen verschiedenen Zwecken dienen. Und schließlich sollten die Stadtteile so gestaltet sein, dass wir in ihnen leben, arbeiten und gedeihen können, ohne ständig woanders hinpendeln zu müssen.

Carlos Moreno [9]

Wirklich neu ist Morenos Idee nicht. Pläne für Stadtviertel, in denen die Einrichtungen des täglichen Bedarfs fußläufig beziehungsweise in kurzer Zeit erreichbar sind, gibt es mindestens seit 1929, als der US-amerikanische Stadtplaner Clarence Perry sein Konzept der "Neighbourhood Units" für New York vorstellte. Danach folgten "Walkable Cities", "Compact Cities" und schließlich auch die "20-Minute-Neighbourhoods" in der US-Stadt Portland Ende der 2000er.

Moreno war allerdings wie kein Zweiter zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und nicht nur das spielt eine Rolle.

Smart-City-Ansatz mit dem Menschen im Zentrum

Einer 2018 veröffentlichten Modellrechnung der UN zufolge werden 2050 mehr als zwei Drittel aller Menschen in Städten leben [10]. Gemäß der (umstrittenen [11]) Annahme eines kontinuierlichen Bevölkerungswachstums, die dem Modell zugrunde liegt, sind es insgesamt 2,5 Milliarden mehr Menschen als heute.

Dennis Meadows, Mitverfasser des berühmten limits to growth-Berichts des Umwelt-Think-Tanks Club of Rome äußerte 2017 seine Überzeugung, dass drohende Ressourcenkonflikte aufgrund eines zunehmenden Bevölkerungswachstums wohl nur mithilfe von "smarten Diktaturen" abgewendet [12] werden könnten.

Im selben Jahr, in dem Moreno sein 15-Minuten-Modell vorstellt, präsentiert das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-Habitat) seine sogenannte New Urban Agenda. Sie legt fest, wie die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs) auf stadtplanerischer Ebene erreicht werden sollen [13].

Wie die Vereinten Nationen und das Weltwirtschaftsforum (WEF), das den UN als "strategischer Partner" bei der Umsetzung der SDGs zur Seite steht [14], verpflichtet sich auch Moreno dem hochtechnisierten "Smart-City-Ansatz"2 [15]:

Die Verfügbarkeit von IoT [Internet of Things]-Geräten, die laut [dem indischen Informatikprofessor Tanweer] Alam bis 2025 mehr als 75 Milliarden Geräte umfassen wird, in Verbindung mit Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI), Big Data, maschinellem Lernen, Crowd Computing [16] und anderen wird voraussichtlich das vorgeschlagene Konzept der 15-Minuten-Stadt verwirklichen […] Der Einsatz von Blockchain, Smart Contracts und fiskalischen Instrumenten kann mit Stadtentwicklungsrechten und Transaktionskosten verrechnet werden.

Carlos Moreno [17]

Jener Smart-City-Ansatz (auch Algokratie, v. Algorithmus) ist aufgrund der Implikationen um Überwachung und Bevölkerungskontrolle mehrfach in die Kritik geraten, zuletzt im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Ukraine [18]. Zukunftsszenarien, in denen Algorithmen demokratische Wahlen ersetzen oder schon heute implementierte Punktesysteme, die über die gesellschaftliche Teilhabe entscheiden, nähren entsprechende Befürchtungen [19].

Von den "fiskalischen Instrumenten [20]" ganz zu schweigen.

Moreno betont hingegen, dass sein 15-Minuten-Modell nichts mit den Experimenten in Masdar (Arabische Emirate), Songdo (Südkorea) oder Alphabets bzw. Sidewalk Labs’ historischem Scheitern im kanadischen Toronto zu tun habe, die als "Grünpause für nachhaltige urbane Entwicklung" (Masdar) angekündigt und als zerbrochener, "utopischer High-Tech-Traum" (Songdo) in die Geschichte eingegangen sind [21].

Wie Toronto [22] verspricht auch der französische Stadtplaner, statt den Profit (wieder) den Menschen in den Fokus zu rücken3 [23]:

Das Potenzial des Smart-City-Konzepts [...] wurde durch die unternehmerische Ausrichtung der Anbieter von ICT [=Informations]-Technologien überschattet, die sich ausschließlich an den lukrativen Gewinnspannen orientieren, die dieses Modell bietet (das im Jahr 2020 auf 410,8 Mrd. USD geschätzt wird und bis 2025 voraussichtlich auf über 820,7 Mrd. USD ansteigen wird).

Carlos Moreno

Auch, aber nicht nur mit Blick auf Toronto müssten neben diesen Profit-Interessen zudem die Bedenken gegenüber einer "Stadt der Überwachung" adressiert werden, die die Datenschutz-Beamten der kanadischen Stadt zum Rücktritt veranlassten [24].

Die 15-Minuten-Stadt als Antwort auf die Corona-Krise

Die Idee der 15-Minuten-Städte wäre womöglich im Lärm der Zukunftsmusik untergegangen, wenn Moreno nicht Berater der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo geworden wäre. Und wenn es die Corona-Krise nicht gegeben hätte. Moreno spricht 2021 nicht umsonst von "Post-Pandemic Cities".

Die Transformation der Stadt der Liebe zur Viertelstunden-Stadt war 2020 fester Bestandteil des Programms von Anne Hidalgo bei der Pariser Bürgermeisterwahl im März [25]. Die Kandidatin der Sozialisten und spätere Macron-Herausfordererin arbeitete eng mit dem Universitätsprofessor Moreno zusammen und teilte dessen Vision einer autofreien Zukunft. Nicht zufällig, übrigens. Aber dazu später mehr.

Dann kam Corona, und die Vision nahm plötzlich konkrete Formen an.

Städte, die (ob nun bewusst oder unbewusst) die Leitlinien [26] der Viertelstunden-Stadt beherzigten, konnten die Krise besser meistern. Das sollten zumindest Auswertungen von Bewegungsdaten wie die des Fußgängerstrom-Analysetools MyTraffic und des Städteverbunds Villes de France nahelegen [27].

Dieser Logik folgten nicht zuletzt auch die strikten Begrenzungen des Bewegungsradius [28] der französischen Bürger im Lockdown, die die Polizisten penibel kontrollierten.

Dass sich vor allem kleine urbane Einheiten als "resilient" gegenüber den beispiellosen Einschränkungen behaupten konnten, bestätigte den Kurs Morenos und der Stadt Paris: "Die Viertelstunden-Stadt als Antwort auf die Gesundheitskrise", titelte [29] die städtische Website im Mai 2022. Das Modell sollte Schule machen.

Vier Monate nach der Pariser Bürgermeisterwahl erklärt die C40 Cities Climate Leadership Group das Pariser Modell zum weltweiten Vorbild. Das Bündnis versammelt mehr als 90 Städte auf der ganzen Welt in dem Vorhaben, die städtebauliche Entwicklung vor allem unter dem Aspekt der Klimafreundlichkeit, aber auch des gesundheitlichen Wohlergehens und der ökonomischen Perspektiven der Bewohner zu fördern.

Der Artikel vom Juli 2020 stellt das 15-Minuten-Modell in den Dienst [30] der Build-Back-Better-Agenda der US-Demokraten. Zu den Förderern und Partnern der C40 zählen [31] wenig verwunderlich deshalb unter anderen Google, George Soros’ Open Society Foundations und Bloomberg Philanthropies, aber auch FedEx, American Express, der in der Corona-Krise stark engagierte [32]. Wellcome Trust sowie die Childrens' Investment Fund Foundation (CIFF), bekannt für "venture philanthropy for global development" und als ehemalige Arbeitsstelle von UK-Premier Rishi Sunak [33].

Vorsitzender der C40 ist Londons Bürgermeister Sadiq Khan (Labour). Gegründet wurde das Bündnis 2005 ebenfalls von einem Bürgermeister Londons, Ken Livingstone (Labour), der 1999 noch mit dem Satz "Ich hasse Autos" polarisierte [34].

2006 tut sich Livingstones C20 mit dem ehemaligen US-Präsidenten und Demokraten Bill Clinton zusammen, um weitere Städte für die klimapolitische Transformation zu gewinnen. Die Clinton Climate Initiative, eine Ausgründung der umstrittenen [35] Clinton Foundation, wirkt fortan als Partner der C40 [36].

Net Zero: Klimaneutraler Stadtumbau von New York bis Oxford

Die C40 verbindet Anne Hidalgo mit Carlos Moreno. Der Stadtplaner begrüßte [37] bereits 2016 in einem Artikel von La Tribune Hidalgos Kandidatur, ist bei zahlreichen Veranstaltungen gemeinsam mit Vertretern des Städte-Netzwerks aufgetreten und empfiehlt die C40 auf seiner Homepage. Hidalgo wiederum sitzt ihrerseits mindestens seit 2015 im 15-Minuten-Boot.

In jenem Jahr findet die UN-Klimakonferenz in Paris statt, auf der per völkerrechtlich (mutmaßlich [38]) bindendem Vertrag (sog. Weltklimaabkommen) unter anderem das viel beschriebene Zwei-Grad-Ziel sowie die Null-Emissionsziele (Net Zero) für 2050 festgelegt werden. Hidalgo war damals Gastgeberin des sogenannten Climate Summit for Local Leaders, gemeinsam mit Michael Bloomberg.

Der ehemalige Bürgermeister von New York City, erklärte Philanthrop und Präsidentschaftsanwärter für die Demokraten im Wahljahr 2020 ist nicht nur Förderer und Vorstandsmitglied der C40, Ko-Vorsitzender der mit (Zentral-)Bankern bestückten [39] Glasgow Alliance for Net Zero (GFANZ) sowie Spezialgesandter des UN-Generalsekretärs für Klima-Ambitionen und -Lösungen.

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt hat seit der "nouvelle vague" in Paris 2020 stetig Nachahmer hinzugewonnen. Informationen der Deutschen Welle zufolge sind weltweit 16 Städte bereits darauf und daran, das Modell der klimafreundlichen Planstadt umzusetzen [40].

Waren die Smart-City-Metropolen Singapur und das während Corona in totalitären Verruf geratene [41] Shanghai bereits 2016 unter den "early movers", verpflichten sich seit 2020 auch immer mehr europäische Städte dazu.

Auf der Liste der Musterbeispiele, die C40 im Januar 2022 anführt [42], finden sich neben der französischen Hauptstadt auch Barcelona, Buenos Aires, Melbourne, Bogotá, Portland und Mailand.

Und auch in Deutschland werden zunehmend Pläne für die 15-Minuten-Stadt entwickelt. Wie deutlich geworden sein dürfte, sind diese Pläne nicht von Maßnahmen zur Erreichung der Emissionsziele und der zumindest teilweisen Verbannung von Privatfahrzeugen aus Innenstädten zu trennen.

So koppeln die Kommunalräte der britischen Stadt Oxford und der Grafschaft Oxfordshire – jeweils geführt von einer "Ampel"-Regierung aus Grünen, den Liberalen Demokraten und der Labour-Partei – das 15-Minuten-Konzept an sogenannte Low Emmission Zones (LEZ) beziehungsweise Zero Emission Zones (ZEZ) [43], zu denen seit Ende Februar 2023 ein Pilotprojekt läuft. In London setzt Bürgermeister und C40-Vorsitzender Khan mit den Ultra Low Emission Zones (ULEZ) auf ein ähnliches Konzept.

Auch das eingangs genannte Papier der Hamburger Grünen sieht eine solche "Umverteilung der Verkehrsflächen" vor.

Auf diese Kopplung von Stadtplanung und Emissionszielen gründet sich die besonders in Großbritannien brodelnde Kontroverse der vergangenen Monate, die eine gewaltige Welle von Faktenchecks – in ihrer Intensität beinahe an die Corona-Krise erinnernd – zu dirigieren versuchte.

Fake News und zweifelhafte Faktenchecks

Das Konzept von ULEZ und ZEZ hat seinen Ursprung im Electronic-Road-Pricing-System [44] der Smart City Singapur. Die Durchfahrt durch bestimmte (stadtnahe) Zonen ist zu bestimmten Zeiten ausschließlich (nach EU-Standards) emissionsarmen oder auch emissionslosen Fahrzeugen vorbehalten. Verstöße werden von Kameras, die Nummernschilder scannen, aufgezeichnet und mit einer Geldbuße (15 Pfund) geahndet.

Oxford plant darüber hinaus für 2024 den Einsatz sogenannter traffic filter [45], die nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren. Bewohner der Stadt und der unmittelbaren Umgebung können sich um eine Erlaubnis bewerben, die ihnen bis zu 100-Mal im Jahr dennoch die Durchfahrt gestattet. Personen, die etwa arbeitsbedingt öfter das Stadtgebiet durchqueren müssen, empfehlen [46] die Kommunalräte, die Ringstraßen zu benutzen.

Das sorgte für Empörung unter Bewohnern, Smart-City-Kritikern und (besonders) konservativen Politikern. Nicht nur, weil ihrer Meinung nach das Argument der Emissionsersparnis damit hinfällig sei, sondern auch weil sie die Räte verdächtigten [47], wichtige Informationen vorenthalten zu haben, die die versprochene Verkehrsentlastung in Frage stellten.

In den sozialen Medien überschlagen sich unter dem Begriff "15-Minute-City" die Ereignisse und Kommentare. Dabei kursieren allerlei abstruse Fake-News und Falschdarstellungen, beispielsweise Videos von angeblichen Sensoren, die bei "unbefugten" Personen automatisch Kühlregale im Supermarkt verschließen.

Auch verachtenswerte Vergleiche der Viertelstunden-Städte mit Konzentrationslagern haben zeitweise die Runde gemacht. Hoch im Kurs war auch der Begriff "Klima-Lockdown" – die Vorstellung, dass die Bürger ihre 15-Minuten-Städte nur noch in Ausnahmefällen verlassen dürfen.

Unter den zahlreichen Faktencheckern, die angetreten sind, "Verschwörungstheorien" und Falschdarstellungen zu widerlegen (darunter die BBC, der Guardian, die New York Times, die Washington Post und weitere namhafte internationale Blätter) widmete sich [48] auch die Nachrichtenagentur AP dem Phänomen des "Klima-Lockdowns".

Der Faktencheck der AP ist deshalb erwähnenswert, weil die Agentur im vergangenen Jahr ihre Unterstützung durch die Stiftungen der Familien Murdoch, Ford, Hewlett und Rockefeller im Feld der "Klimaberichterstattung" bekanntgab [49]. Deshalb müssen die Faktenchecks aber natürlich nicht gefärbt oder gar falsch sein.

Wenn allerdings die Aussage vom Chef des Senseable City Laboratory am Bostoner MIT und Mitglied des Global Future Council on Cities and Urbanization des WEF, Carlo Ratti [50], genügt, um (vermeintliche) Falschbehauptungen zu widerlegen, stellt sich für manche möglicherweise die Frage nach der journalistischen Integrität.

Als (relativ [51]) frisches Mitglied beim internationalen Faktencheck-Netzwerk [52] des US-amerikanischen Poynter-Instituts (IFCN) durfte auch ein Beitrag des Bayerischen Rundfunks zum Thema nicht fehlen, in dem seit den zweifelhaften Faktenchecks [53] aus der Corona-Zeit wieder einmal von "Verschwörungsideologen" die Rede war [54]. Carlos Moreno höchstpersönlich darf darin widerlegen, dass 15-Minuten-Städte nicht dazu da sind, um Menschen "in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken".

Sind die Bedenken der "Verschwörungsideologen" also völlig unbegründet, wie es die regelmäßig zitierte österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl im BR-Faktencheck suggeriert?

Jedenfalls muss man nicht lange suchen, um Kritik am Konzept der 15-Minuten-Städte zu finden, die aus berufenem Munde stammt.

"PR von Privilegierten" oder doch Vorbote für den "Klima-Lockdown"?

So warnt der italienische Professor Marco Cremaschi, der in Paris und Mailand Stadtplanung unterrichtet, dass Morenos "Trugbild" den historischen Fehler der Funktionalisten um Le Corbusier wiederholen könnte: die Stadt als "totale Infrastruktur" zu verdinglichen.

Hinter Morenos Anspruch, "die Nachfrage der Bewohner näher an das Angebot zu bringen", vermutet Cremaschi die Angleichung an die Ansprüche von Big Tech: Google, Amazon, Facebook, Apple (frz.: GAFA)4 [55]:

Es gibt keinen generischen Bürger, sondern mehrere Stadtbewohner […] die 15-Minuten-Stadt vereint scheinbar Einzelpersonen und Verbraucher in einem freien Markt, in einer flexiblen Arena, die problemlos gegensätzliche ideologische Positionen unterbringt. Reduzieren wir die Stadt dann nicht auf eine Dienstleistungsplattform?

Marco Cremaschi [56]

Die Fragen, die sich aus städtebaulicher und verwaltungstechnischer Sicht stellen, können hier unmöglich beantwortet werden. Jedenfalls kündigte Moreno 2020 bereits an, dass die 15-Minuten-Städte nach einem "neuen Wirtschaftsmodell" verlangen [57]. Das mutmaßlich planwirtschaftliche Vorgehen, nach dem sein Konzept verlangt, hält Cremaschi nicht für realisierbar.

Das sieht im Übrigen auch der australische Stadtplaner Tony Matthews vom australischen Cities Research Institute in Brisbane so5 [58]:

Eine Verdoppelung von Dienstleistungen wäre in einem Umfang erforderlich, der weit über das derzeitige Angebot hinausgeht. Die Markteffizienz würde gestört, vielleicht sogar verloren gehen, so dass viele private Dienstleistungsanbieter nicht mitmachen würden.

Tony Matthews [59]

Sowohl Cremaschi als auch Matthews stimmen wiederum dem renommierten französischen Stadtplaner Pierre Veltz zu, dass die 15-Minuten-Stadt eine Vision Privilegierter ist – oder, wie Veltz formuliert: "Eine Bobo [60]-Utopie, unzugänglich für Putzfrauen in Roissy oder Lageristen in Rungis". Neben der Lebensrealität der Arbeiterklasse bleibe außerdem die "segregationistische Logik des Grundstücksmarktes" außen vor [61].

Dem schließt sich auch der bekannte französische Stadtplaner Thierry Paquot vom Institut d’urbanisme de Paris im französischen Magazin Esprit an6 [62]:

Die Viertelstunden-Stadt ist PR! Eine Sache der Privilegierten, wie die 24/7-Stadt, die vergisst, dass sie, um Tag und Nacht zu funktionieren, Arbeiter im Laderaum braucht.

Thierry Paquot [63]

Neben den Stadtplaner-Koryphäen hat der Physiker James Woudhysen, Gastprofessor für Innovation und Prognosen an der Londoner South Bank University, im Magazin spiked wohl eine der vernichtendsten Kritiken von akademischer Seite vorgetragen7 [64]:

Was als Wiederbelebung von Großbritanniens grünem und schönem Land dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eine Zwangsmaßnahme, um Autofahrer an die Leine zu legen. Diejenigen, die ein Auto haben, werden zählen müssen, wie oft sie es benutzen, um die Stadt zu durchqueren. Es wird Genehmigungen und Strafen geben und mit ziemlicher Sicherheit wird die Überwachung allgegenwärtig sein. [...] Es ist nicht das erste Mal und auch nicht das letzte Mal, dass die "Net Zero"-Agenda viel zu viel Inspiration aus jenen illiberalen Tagen des Lockdowns gezogen hat.

James Woudhysen [65]

Ist es vielleicht doch noch zu früh, den "Klima-Lockdown" als Verschwörungstheorie aus dem Diskurs zu verbannen – zumal er von politischen Figuren wie Karl Lauterbach ganz selbstverständlich als Szenario vorgezeichnet wurde [66]?


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[1] https://www.bild.de/regional/hamburg/hamburg-aktuell/damit-wir-unsere-autos-abschaffen-gruene-wollen-aus-hamburg-104-doerfer-machen-83027758.bild.html
[2] https://beschluss.gruene-hamburg.de/2023/02/25/deine-stadt-dein-viertel-lebenswertes-hamburg-fuer-alle/
[3] https://www.gruene-hamburg.de/planwerkstatt2030/
[4] https://www.t-online.de/region/hamburg/id_100135396/-15-minuten-stadt-hamburg-gruenen-politiker-alam-wollen-das-auto-nicht-aussperren-.html
[5] https://extranet.who.int/agefriendlyworld/age-friendly-cities-framework/
[6] https://www-latribune-fr.translate.goog/regions/smart-cities/la-tribune-de-carlos-moreno/la-ville-du-quart-d-heure-pour-un-nouveau-chrono-urbanisme-604358.html?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[7] https://www.moreno-web.net/the-15-minutes-city-for-a-new-chrono-urbanism-pr-carlos-moreno/
[8] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_1
[9] http://web.archive.org/web/20201122093108/https://www.ted.com/talks/carlos_moreno_the_15_minute_city/transcript
[10] https://www.un.org/development/desa/en/news/population/2018-revision-of-world-urbanization-prospects.html
[11] https://www.abc.net.au/news/2022-11-13/earths-population-reaches-eight-billion-people/101643854
[12] https://www.telepolis.de/features/UN-Ikone-Maurice-Strong-Zwischen-Umweltpolitik-Oel-Business-und-Weltregierung-7477982.html?seite=2
[13] https://unhabitat.org/sites/default/files/2019/05/nua-english.pdf
[14] https://www.telepolis.de/features/Oelmacht-USA-Klimapolitik-gegen-Konkurrenz-aus-dem-globalen-Sueden-7476492.html?seite=2
[15] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_2
[16] https://de.wikibrief.org/wiki/Crowd_computing
[17] http://web.archive.org/web/20201122093108/https://www.ted.com/talks/carlos_moreno_the_15_minute_city/transcript
[18] https://www.telepolis.de/features/Das-Transformationsgeschaeft-mit-der-Ukraine-7521333.html?seite=all
[19] https://www.cicero.de/kultur/bologna-sozialkredit-system-china-agenda-2030-smart-cities
[20] https://www.telepolis.de/features/Mit-dem-digitalen-Geld-in-die-Unfreiheit-7334709.html
[21] https://labgov.city/theurbanmedialab/songdo-we-have-a-problem-promises-and-perils-of-a-utopian-smart-city/
[22] https://www.theguardian.com/world/2021/mar/12/toronto-canada-quayside-urban-centre
[23] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_3
[24] https://www.theguardian.com/world/2018/oct/23/toronto-smart-city-surveillance-ann-cavoukian-resigns-privacy
[25] https://www.theguardian.com/world/2020/feb/07/paris-mayor-unveils-15-minute-city-plan-in-re-election-campaign
[26] https://www.cnu.org/publicsquare/2021/02/16/guiding-principles-15-minute-city
[27] https://www-francetvinfo-fr.translate.goog/economie/commerce/covid-19-villefranche-sur-saone-chambery-et-pau-sur-le-podium-des-villes-moyennes-les-plus-dynamiques_4342617.html?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[28] https://www.tagesspiegel.de/politik/frankreich-kennt-die-corona-leine-schon-6167632.html
[29] https://www-paris-fr.translate.goog/dossiers/paris-ville-du-quart-d-heure-ou-le-pari-de-la-proximite-37?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[30] https://www.c40knowledgehub.org/s/article/How-to-build-back-better-with-a-15-minute-city?language=en_US
[31] https://www.c40.org/funders-partners/
[32] https://unlimitedhangout.com/2021/06/investigative-reports/a-leap-toward-humanitys-destruction/
[33] https://www.telepolis.de/features/Advokat-der-neuen-Geldordnung-7334693.html
[34] https://www.seattletimes.com/nation-world/london-widens-congestion-tax-area-for-cars/
[35] http://umstrittenen
[36] http://web.archive.org/web/20161110143227/https://www.clintonfoundation.org/main/news-and-media/press-releases-and-statements/press-release-president-clinton-launches-clinton-climate-initiative.html
[37] https://www.latribune.fr/regions/smart-cities/la-tribune-de-carlos-moreno/urbanisation-mondiale-et-reseaux-de-villes-563504.html
[38] https://www.weforum.org/agenda/2021/11/paris-climate-agreement-legally-binding/
[39] https://www.telepolis.de/features/Schuldenfalle-in-gruen-7397759.html?seite=3
[40] https://www.dw.com/de/gewinn-f%C3%BCr-bewohner-gesch%C3%A4fte-und-lebensqualit%C3%A4t-wie-15-minuten-st%C3%A4dte-urbanes-leben-neu-denken/a-64790239
[41] https://www.welt.de/politik/ausland/plus238708637/Worum-es-bei-Chinas-brutaler-Zero-Covid-Politik-wirklich-geht.html
[42] https://www.c40knowledgehub.org/s/article/Benchmark-15-minute-cities?language=en_US
[43] https://www.oxfordshire.gov.uk/residents/roads-and-transport/oxford-zero-emission-zone-zez/about-zero-emission-zone
[44] https://www.mot.gov.sg/what-we-do/motoring-road-network-and-infrastructure/Electronic-Road-Pricing
[45] https://www.oxfordshire.gov.uk/residents/roads-and-transport/connecting-oxfordshire/traffic-filters
[46] https://www.oxford.gov.uk/news/article/2332/joint_statement_from_oxfordshire_county_council_and_oxford_city_council_on_oxford_s_traffic_filters
[47] https://twitter.com/GroupOx/status/1633127945643470849
[48] https://apnews.com/article/fact-check-15-minute-city-conspiracy-162fd388f0c435a8289cc9ea213f92ee
[49] https://www.ap.org/press-releases/2022/ap-announces-sweeping-climate-journalism-initiative
[50] https://www.weforum.org/communities/gfc-on-the-future-of-cities
[51] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/der-br24-faktenfuchs-ist-mitglied-im-netzwerk-ifcn,THPOq0d
[52] https://multipolar-magazin.de/artikel/auf-dem-weg-zum-wahrheitsministerium
[53] https://www.telepolis.de/features/Zehn-zweifelhafte-Faktenchecks-und-wie-die-Politik-die-Wissenschaft-diskreditierte-7339388.html?seite=all
[54] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/15-minuten-staedte-von-der-vision-zur-verschwoerungstheorie,TX369PO
[55] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_4
[56] https://metropolitiques-eu.translate.goog/Ville-du-quart-d-heure-ville-des-GAFA.html?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[57] http://web.archive.org/web/20201122093108/https://www.ted.com/talks/carlos_moreno_the_15_minute_city/transcript
[58] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_5
[59] https://enlighten.griffith.edu.au/the-false-promises-of-the-15-minute-city/
[60] https://de.wikipedia.org/wiki/Bobo_(Gesellschaft)
[61] https://www-liberation-fr.translate.goog/societe/ville/du-droit-a-la-ville-a-la-ville-du-quart-dheure-quelle-regression-20210909_USPZOEQ5FNHWTE6VZKRJBXEX24/?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[62] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_6
[63] https://esprit-presse-fr.translate.goog/article/thierry-paquot/la-ville-du-quart-d-heure-43275?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de
[64] https://www.heise.de/tp/features/15-Minuten-Staedte-Klima-Lockdown-oder-Lebensqualitaets-Booster-7702290.html?view=fussnoten#f_7
[65] https://www.spiked-online.com/2022/10/25/the-madness-of-the-15-minute-city/
[66] https://www.youtube.com/watch?v=nQl_bfLYMfE