176.500 Jahre alte Kreise, tief in der Dunkelheit

Seite 2: Fähigkeiten des Neandertalers

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Dem Neandertaler hätte bislang niemand auch nur zugetraut, dass er in solche Tiefen einer Höhle vorgestoßen ist.

Er beherrschte das Feuer und bereitete seine Nahrung wohl bereits seit 300.000 bis 400.000 Jahren vor unserer Zeit mit Hitze zu. Er war in Europa das erste menschliche Wesen, das diese Fähigkeit hatte (vgl. On the earliest evidence for habitual use of fire in Europe). Aber dass er mit Fackeln die Unterwelt erforschte, um dann dort Feuer zu entzünden und eine derartig komplexe Kreisanlage zu erbauen, das hätte in der Fachwelt niemand vermutet.

Die meisten Experten gehen davon aus, dass der Neandertaler erst durch den Kontakt mit den modernen Menschen etwas wie Kultur entdeckte und symbolisches Denken kennen lernte. Diese Unterlegenheit soll letztlich seinen Untergang bedeutet haben. Dabei ist seit längerem klar, dass er einige Kulturtechniken beherrschte. Neandertalerinnen und Neandertaler bemalten ihre Körper und trugen Schmuck aus Knochen, Klauen, Federn und Muscheln (vgl. Großes Gehirn und intelligenter als gedacht). Ihr Werkzeug war technisch auf der Höhe der Zeit, sie klebten mit gekochtem Birkenpech und fertigten sich Kleidung aus Leder und Pelzen (vgl. Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler).

Probenentnahme in der Bruniquel-Höhle. Foto: Michel SOULIER - SSAC

Dennoch wurde ihnen bislang die Herstellung von Kunstwerken nicht zugetraut. Deshalb werden alle Fels- und Höhlenzeichnungen genau wie Kleinskulpturen stets dem anatomisch modernen Menschen zugeschrieben. Aber Felsgravierungen in einer Höhle in Gibraltar brachten im vergangenen Jahr diese Annahme ins Wanken. Es tauchten dort Muster in Stein auf, die nicht zufällig z.B. bei Schneiden von Fleisch oder Fell entstanden sein können. Mit großem Aufwand schlug der Urzeitkünstler die sich kreuzenden Linien vor mehr als 39.000 Jahren gezielt in den Fels.

Es gibt längst viele Hinweise auf abstraktes Denken und symbolische Aktivitäten des Homo neanderthalensis. Sie waren anders, aber nicht unterlegen (vgl. Anderes Hirn und jede Menge Sex). Was eine Studie von 2014 belegt, die sich mit den Unterlegenheitsszenarien auseinandersetzte und feststellte, dieses Modell beruhe vor allem auf Vorurteilen und veraltetem Denken der Wissenschaft (vgl. Neandertal Demise: An Archaeological Analysis of the Modern Human Superiority Complex).

Soziale Organisation

Die ringförmigen Tropfstein-Mauern stehen für eine sorgfältige Planung und Umsetzung der Bauarbeiten. Die Steine wurden zusammengesucht, bearbeitet, transportiert und aufeinander geschichtet. Das Baumaterial bestand aus fast gleich großen Stalagmiten-Stücken, mit neben und übereinander gelegten Steinbrocken wurden die Kreise von Innen und Außen verstärkt und gestützt. Aneinander gereiht würden die verwendeten Steine eine Strecke von 112 Metern ergeben. Jacques Jaubert erläutert:

Die Struktur legt nah, dass diese Gruppe von damaligen Neandertalern eng zusammen hielt und bereits eine elaborierte soziale Organisation hatte - auf jeden Fall 'moderner', als bisher gedacht. Die Studie zeigt, dass die Neandertaler das Feuer perfekt beherrschten, denn ohne diese Fähigkeit hätten sie sich kaum so weit in eine Höhle hinein getraut, wo komplette Dunkelheit sie erwartete.

Viele Fragen bleiben vorerst offen, darunter auch die nach der Funktion der Stalagmiten-Kreise. Die Feuerstellen fanden sich vor allem oben auf den Steinhaufen. Ob die Wälle für Kulte oder Riten genutzt wurden, ist reine Spekulation). Sie könnten auch eine technische Funktion gehabt haben, z.B. als Wasserspeicher.

Aber warum die Ur-Europäer in einer klimatisch warm und feuchten Epoche einen Wasserspeicher so tief in einer Höhle hätten bauen sollen, bleibt ebenfalls mysteriös. Nach dieser Entdeckung ist anzunehmen, dass Homo neanderthalensis auch außerhalb von Höhlen eigene Konstruktionen aus vergänglichen Materialien wie Holz, Knochen und Tierhäuten errichtete, die der Zahn der Zeit längst komplett vertilgte.