45 Minuten Pause als Protest: Britische Lkw-Fahrer haben genug
Wenn alle gleichzeitig der gesetzlichen Regelung nachkommen, könnte sich in der Logistik-Branche etwas bewegen, so die Hoffnung der Initiative #TruckedOff
Britische Lkw-Fahrer haben genug. Für den 1. November ruft eine Graswurzelbewegung alle Fahrer dazu auf, um 11 Uhr vormittags den nächstgelegenen Parkplatz anzufahren, um dort gemeinsam mit anderen Fahrern die gesetzlich vorgeschriebene Pause von 45 Minuten einzuhalten. #TruckedOff ist der Online-Markenname der Kampagne, ein Wortspiel aus dem englischen Wort für Lkw und dem Schimpfwort "fucked off", was auf Deutsch etwa "angepisst" bedeutet.
Und angepisst sind die Fahrer, das wird aus zahlreichen Online-Postings deutlich. Unter dem Motto ihrer Kampagne teilen sie via Facebook und Twitter Fotos, die den desolaten Zustand sanitärer Anlagen auf britischen Parkplätzen und Raststätten zeigen. Die Gewerkschaft Unite, die der Kampagne inzwischen ihre Unterstützung zugesichert hat, zitiert in einem neuen Papier über den Zustand der britischen Trucker-Branche einen Fahrer, der die vorhandenen sanitären Anlagen schlicht als "widerlich" bezeichnet. An einem Ort gebe es nur zwei Toiletten für 120 Fahrer. Entsprechend würden diese auch aussehen. Auf vielen Parkplätzen könne man die Hinterlassenschaften von Fahrern finden, die ihre Notdurft dort unter freiem Himmel verrichtet hätten.
Hintergrund der symbolischen Aktion ist die andauernde Logistik-Krise auf der Insel, die längst nicht mehr nur Fahrer betrifft. So kommt es an britischen Häfen immer noch zu Lieferstaus, weil Container dort länger lagern als üblich. Sie werden einfach nicht termingerecht abgeholt. Insgesamt fehlen in Großbritannien 100.000 Fahrer. Das hat laut dem neuen Positionspapier der Gewerkschaft Unite mehrere Gründe. So seien im Rahmen der Wirtschaftskrise zahlreiche Fahrer entlassen worden. Mit dem wieder anlaufenden Wirtschaftswachstum darauf folgender Jahre seien diese Fahrer großteils nicht mehr in ihren alten Job zurückgekehrt.
Die Rekrutierung neuer Fahrer sei nur schleppend verlaufen. Der Brexit habe der Branche dann einen weiteren Schock versetzt, da viele in Großbritannien arbeitende osteuropäische Fahrer Großbritannien den Rücken gekehrt hätten. Mit Beginn der Covid-19 Pandemie sei außerdem die Ausbildung neuer Fahrer vollständig zum Erliegen gekommen. Außerdem würden zahlreiche Fahrer inzwischen an Long-Covid Symptomen leiden, nachdem sie sich während der Arbeit, etwa beim Be- und Entladen ihrer Lkw mit dem Virus infiziert hätten.
Hinzu kommt die allgegenwärtige Überalterung in der Branche. Das Onlineportal der Zeitschrift "Tribune" veröffentlichte unlängst den Meinungsbeitrag eines 60 Jahre alten Lkw-Fahrers. Der Altersdurchschnitt in der Branche betrage 55 Jahre, so der unter einem Pseudonym schreibende Fahrer. Und junge Leute kämen nicht hinzu.
Wenn die Fahrer am Montag kurz Pause machen, dann protestieren sie damit auch gegen die Art und Weise, mit der die britische Regierung der Logistik-Krise bislang begegnet ist - nämlich indem sie Arbeitsschutzgesetze außer Kraft gesetzt hat. Eigentlich dürfen Fahrer in Großbritannien nur neun Stunden am Stück am Steuer sitzen. Schon im Frühling wurde dieses Zeitfenster auf zehn Stunden täglich erhöht. An zwei Tagen pro Woche dürfen Fahrer sogar elf Stunden am Stück fahren. Am 29. Oktober wurde diese Regelung von der Regierung per Exekutiverlass zum wiederholten male verlängert, und zwar bis zum 9. Januar 2022. Damit soll offensichtlich dafür gesorgt werden, dass das Weihnachtsgeschäft möglichst reibungslos über die Konsumgüterschiene geht.
Überwachung mit Tracking-Geräten
Die allermeisten Lkw sind inzwischen mit Tracking-Geräten ausgestattet. Unternehmer können damit nachverfolgen, wo sich ein Lkw aufhält, ob er fährt, oder etwa an einem Ort pausiert, an dem er das nach Meinung des Unternehmers nicht sollte. Die gemeinschaftliche Pause am 1. November wird so auch zu einer Ansage an die Chefs: "Nehmt Eure Euch rechtlich zustehende Pause wahr. Ihr müsst nicht die ganzen 45 Minuten pausieren, aber geht von der Straße runter. Es gibt nichts, was Euer Boss dagegen tun kann. Sollen Fahrer nicht pausieren, wenn sie müde sind? Nun, wir sind es verdammt müde immer wie Dreck behandelt zu werden. Also wird es Zeit, dass wir etwas dagegen unternehmen", heißt es im Aufruftext des #TruckedOff-Flugblatts.
Der Hinweis darauf, nicht die gesamten 45 Minuten pausieren zu müssen, um an der Aktion teilnehmen zu können, verweist auf eine weitere Problematik für britische Lkw-Fahrer. Denn viele Raststätten gewähren Lkw nur eine Verweildauer von 30 Minuten. Steht ein Truck länger, erhält das Unternehmen automatisch einen Strafzettel. Deshalb ist es oft nicht möglich, die gesetzlich vorgeschriebene Pause vollständig einzuhalten.
Gewerkschaft sieht "reale und chronische Probleme"
Hinzu kommt, dass die Infrastruktur für Lkw-Fahrer entlang der Autobahnen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zusammengebrochen ist. Parkstreifen wurden abgeschafft, Cafés und Imbissbuden haben zugesperrt. Diese Situation trifft auf Fahrer, die teilweise 13 bis 15-stündige Arbeitstage haben und in einer Arbeitswoche bis zu vier Nächte am Stück im Lkw schlafen müssen.
All dies sei Ausdruck "realer und chronischer Probleme" in der Branche, so die Gewerkschaft Unite. Die Branche sei in zahlreiche Einzelteile aufgespalten. Es gebe tausende miteinander konkurrierende Unternehmen, alle mit eigenen Tarifstrukturen. Dadurch würden Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein nicht aufrecht erhaltbares und gefährliches Niveau nach unten gedrückt. Auslagerung und Leiharbeit hätten außerdem dazu beigetragen, dass die Arbeitssituation für viele Fahrer immer prekärer geworden sei.
Für die Gewerkschaft ist das ein Ergebnis einer in den 1970er-Jahren begonnenen Deregulierungsgeschichte. Damals gab es noch für die gesamte Branche gültige Tarifverhandlungen. Im Rahmen ihrer in der vergangenen Woche abgehaltenen Konferenz in Liverpool kam es auch zu einem Zusammentreffen gewerkschaftlich organisierter Lkw-Fahrer sowie der neuen Unite-Generalsekretärin Sharon Graham. Ergebnis dieses Treffen war der Beschluss des Vorhabens, sich branchenweite Tarifverhandlungen zurück zu erkämpfen. Der Aktionstag am ersten November ist Ausdruck dieses Vorhabens, gleichzeitig aber auch Ausdruck davon, dass Fahrer nicht mehr auf die vorherige Erlaubnis ihrer Gewerkschaft warten um eigenständige Kampfschritte zu setzen.
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