80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: Wenn Politik die Erinnerung überschattet
Eingang zum deutschen Vernichtungslager Auschwitz
(Bild: rituais em viagem/Shutterstock.com)
Gedenken an Auschwitz-Befreiung in Polen. Streit um gar nicht vorgesehene Einreise Netanjahus. Politikerreden und russische Delegation ausgeschlossen.
Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee zum achtzigsten Mal.
Seit 1996 ist der Tag ein deutscher, seit 2005 ein internationaler Gedenktag der Vereinten Nationen. Das Gedenken an den Holocaust sollte im Vordergrund stehen. Doch polnische Machtkämpfe und internationale Kriege überlagern diesmal den Tag.
Streit um einen gar nicht eingeladenen Gast
Das achtzigjährige Gedenken an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 droht von aktuellen politischen Auseinandersetzungen überschattet zu werden.
Kontroversen um die jährliche Erinnerungszeremonie im ehemaligen NS-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau bei Oświęcim in Polen sind zwar kein Novum. In diesem Jahr, 2025, 80 Jahre nach der Befreiung des KZ durch sowjetische Truppen, vermengen sich jedoch globale und polnische innenpolitische Konflikte.
So stieß Polens Präsident Andrzej Duda eine Debatte darüber an, wie sich polnische Autoritäten bei einer Einreise des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu verhalten würden. Der Internationale Strafgerichtshof sprach 2024 gegen Netanjahu einen Haftbefehl aus. Polen wäre als IStGH-Mitgliedsstaat zur Festnahme verpflichtet.
In einem Brief an Ministerpräsidenten Donald Tusk forderte Duda, "eine geeignete Lösung zu finden, die das internationale Recht respektiert und gleichzeitig den außergewöhnlichen Charakter der Gedenkfeier würdigt."
Er verwies auf die "reichhaltigen polnischen Traditionen des rechtlichen Schutzes ausländischer Delegationen." Duda stach den Brief an polnische Medien durch.
"Es gibt Angelegenheiten, die man mit Diskretion behandeln sollte, besonders wenn sie so ein Gewicht haben und so kompliziert sind", entgegnete Tusk verärgert. Die Regierung habe bereits an einem Beschluss gearbeitet, um israelische Vertreter bei der Gedenkfeier zu schützen.
Die Rechtsprechung des IStGH erkenne die Regierung grundsätzlich an, die Entscheidung sei nur auf die Gedenkfeier zum Jahrestag von Auschwitz bezogen.
Eine Scheindebatte? Der israelische Premier war gar nicht persönlich eingeladen worden – auch, um die im Zuge vergangener erinnerungspolitischer Kontroversen um Auschwitz ohnehin angespannten polnisch-israelischen Beziehungen nicht weiter zu belasten.
Erinnerungspolitik als Kampfplatz polnischer Innenpolitik
Die Kontroverse spitzt den Konflikt zwischen Präsident Duda, Mitglied der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) und Ministerpräsident Donald Tusk, Mitglied der liberalkonservativen Partei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform), zu. Ende 2023 hatten beide Parteien bei den Parlamentswahlen miteinander gerungen. Der Machtkampf dauert an.
Am 18. Mai 2025 finden in Polen Präsidentschaftswahlen statt. Erwartet wird ein Showdown zwischen dem PO-Kandidaten Rafał Trzaskowski und dem PiS-Kandidaten Karol Nawrocki. Erinnerungspolitische Auseinandersetzungen könnten eine besondere Rolle spielen, ist Nawrocki doch seit 2021 Leiter des staatlichen polnischen Instituts für Nationales Gedenken.
Mit der Kontroverse um das Auschwitz-Gedenken ist der PiS derweil ein Punktsieg gegen Tusks Regierung gelungen: 51,9 Prozent der polnischen Bevölkerung stehen Tusks Entscheidung laut Forschungsinstitut IBRiS kritisch gegenüber, 25,6 Prozent sind unentschlossen und nur 22,5 Prozent befürworten die Entscheidung.
Als Reaktion versammelten sich propalästinensische Protestierende vor der polnischen Staatskanzlei. Tusks Ruf, sich anders als die vormalige PiS-Regierung nicht über die Judikative hinwegzusetzen, hat Schaden genommen.
Gedenkkultur zwischen Erinnerung, Kommerzialisierung und Politik
Die Kontroverse erscheint symbolisch, zumal Reden von Politikern beim diesjährigen Gedenken in Auschwitz ausgeschlossen sind. Piotr Cywiński, seit 2006 Leiter des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, erklärte dem Guardian: "Wir wollen uns auf die letzten Überlebenden konzentrieren, die noch unter uns sicnd, auf ihre Geschichte, ihren Schmerz, ihr Trauma und ihren Weg, uns einige schwierige moralische Verpflichtungen für die Gegenwart anzubieten."
Letzte Botschaften der Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau dokumentieren zu wollen, hängt wohl auch damit zusammen, dass jene bereits zwischen 90 und 100 Jahre alt sind und das Jahr 2025 wohl der letzte runde, große Gedenktag sein wird, an dem sie teilnehmen können.
Die Conference on Jewish Material Claims Against Germany startete daher die Kampagne #rememberthis, um Erinnerungen der Überlebenden per Video zu dokumentieren.
Ob ein personalisiertes Gedenken an die Ermordung von über 1 Million Juden, 25.000 Roma und Sinti, 80.000 nichtjüdischen Polen sowie 20.000 sowjetischen Soldaten durch das NS-Regime in Auschwitz verhindert, dass es politisiert und aktualisiert wird, kann jedoch bezweifelt werden.
So hat Dudas Manöver bereits internationale Reaktionen hervorgerufen: Kanada, die Niederlande und Italien würden Netanjahu im Falle einer Einreise festnehmen, während Ungarn den Haftbefehl ignorieren würde. Das eigentliche Gedenken rückt in den Hintergrund.
Gedenken ohne russische Delegation
In den Hintergrund rückte auch die Tatsache, dass zum Gedenken der Befreiung dieses Jahr keine russische Delegation eingeladen ist. Zwar waren Russen wie Ukrainer vor 80 Jahren als Angehörige der Roten Armee an der Befreiung des Konzentrationslagers beteiligt.
Aufgrund des Krieges zwischen Russland und Ukraine lehnt Polen die Einladung russischer Vertreter allerdings ab.
Cywiński erklärte gegenüber dem Guardian: "Man nennt ihn den Tag der Befreiung, und ich denke nicht, dass ein Land, dass den Wert von Freiheit nicht versteht, etwas mit einer Zeremonie zu tun hat, die der Befreiung gewidmet ist. Es wäre zynisch, sie hier zu haben."
Parallelen zwischen Russlands Kriegsführung in der Ukraine und Israels Kriegsführung in Gaza wies Cywiński zurück: Im Ukrainekrieg gehe es um "ein Land, das eine unschuldige und unabhängige Nation angreift", beim israelischen Angriff in Gaza, "obgleich tragisch", doch um "ein Land, das versucht, sich vor einem enormen terroristischen Angriff zu schützen."
Dass sich das Holocaust-Gedenken weltweit im Widerspruch zwischen breitenwirksamer Geschichtsvermittlung, kulturindustrieller Kommerzialisierung und politischer Instrumentalisierung bewegt, erkannte der israelisch-deutsche Soziologe Moshe Zuckermann bereits 2019: "Dass nationale Gedenkkulturen seit jeher über das eigentlich zu Gedenkende interessengeleitet hinausschießen, mithin Geschichtsereignisse, historische Gestalten wie auch Orte heteronom vereinnahmen, dürfte mittlerweile als Binsenweisheit gelten."