800 Ideen für die Steuer: Deutsche debattieren Steuergerechtigkeit
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Bürgerinitiativen starten Online-Debatte zur Steuer- und Finanzpolitik: Wer entscheidet, wofür unser Geld ausgegeben wird?
Wie in vielen privaten Haushalten geht es auch in der Politik sehr oft ums Geld: wie viel kommt rein und wie viel kann ausgegeben werden?
Lassen sich die Einnahmen erhöhen, sollte man sparsamer sein, etwas auf die hohe Kante legen oder braucht es einen Kredit, um sich schon heute etwas leisten zu können, was eigentlich erst in der Zukunft finanzierbar ist?
Dass die Politik es dabei etwas leichter hat als der Privathaushalt, ist hinlänglich bekannt und wurde gerade durch die Grundgesetzänderungen unterstrichen, die zusätzliche Schulden in Billionen-Höhe ermöglichen.
Und doch sind Fragen der Staatsfinanzen derzeit ein großer Streitpunkt in den Koalitionsverhandlungen für eine neue Bundesregierung.
Mehr Demokratie eröffnet Steuerdebatte
Damit die Bürger nicht nur passiv über die Medien verfolgen, wie die Politik letztlich über das Geld dieser Bürger verfügt, haben die Vereine Mehr Demokratie, Netzwerk Steuergerechtigkeit und Bund der Steuerzahler eine Online-Bürgerdebatte eröffnet.
Gute Politik und demokratische Entscheidungen sind immer auch eine Frage des Geldes. Was wollen und können wir uns als Gemeinschaft leisten? wer soll dafür bezahlen?
Über diese Fragen sollte nicht nur in Expertengremien und hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Steuern zahlen alle, und was der Staat mit den Steuereinnahmen finanziert, geht alle etwas an.
Durch die unterschiedlichsten Lebensumstände und Werte hat jeder eine eigene Sichtweise darauf. Um diese Perspektiven zu Wort kommen zu lassen, organisieren wir die Bürgerdebatte gerechte Steuern und Finanzen.
Website Steuerdebatte.info
Bis Ende April kann sich jeder mit eigenen Vorschlägen einbringen und über die Ideen anderer abstimmen.
In einem nächsten Schritt sollen dann ab Ende Mai ausgeloste Bürger unter anderem anhand dieser Vorschläge über Grundsätzliches diskutieren.
Was können und wollen wir uns als Gesellschaft leisten? Und wer soll das dann bezahlen? Bei den Antworten steht im Mittelpunkt: Welche Aufgaben soll der Staat übernehmen? Und wie finanziert er sie? Was ist machbar? Was ist gerecht?
Website Steuerdebatte.info
Als Ergebnis dieser Beratung sollen "Leitlinien für die Steuer- und Finanzpolitik" stehen. Dabei geht es letztlich um ganz große Demokratiefragen: Unter welchen Bedingungen bzw. zu welchen Konditionen darf jemand von einem anderen finanzielle Leistungen zur Befriedigung seiner eigenen Interessen verlangen?
Oder aus anderer Perspektive: Was muss jemand der Gesellschaft geben, in der und mit der er Geld für sich verdienen möchte?
Die derzeit miteinander über eine Regierungsbildung verhandelnden Parteien bildeten ursprünglich mal die beiden großen Pole dieser Grundsatzfragen. Als Koalition müssten sie die verschiedenen Sichtweisen und Interessen daher eigentlich zusammenbekommen.
Allerdings haben auch die früheren "Grokos" hierin keine dauerhafte Einigung erzielen können.
Bisher 800 Forderungen
Ein Blick in die bisher rund 800 Einzelvorschläge der "Steuerdebatte" zeigt, wie unterschiedlich auch bei den Bürgern die Interessen sind.
Der eine möchte Steuereinnahmen in erster Linie zur Schuldentilgung verwendet sehen, ein anderer die Einkommensteuer ganz abschaffen – oder zumindest für Jahreseinkommen bis 150.000 Euro.
Da wünscht sich jemand kostenlosen ÖPNV, ein anderer die Privatisierung der Sozialversicherungen.
Eine Bürgerin schlägt vor, die Höhe der Lohnsteuer von der Systemrelevanz des jeweiligen Berufs abhängig zu machen. Eine andere möchte grundsätzlich über die Verwendung ihrer Steuern mitentscheiden können.
Auch NGO in der Steuerdebatte
Auch Organisationen können Vorschläge einbringen:
Man sollte Grundgesetz eine Obergrenze von 20 Mio. € für private Vermögen einführen. Mehr Reichtum macht niemanden glücklicher.
Attac auf Steuerdebatte.info
Das Netzwerk Steuergerechtigkeit möchte das Ehegattensplitting abschaffen, mit dem das Gesamteinkommen von Ehe- und Lebenspartnern auf beide Personen hälftig angerechnet und entsprechend besteuert wird, unabhängig davon, wie viel der einzelne tatsächlich verdient hat.
Bürokratie und Pflichtpraktikum für Politiker
Es finden sich auch viele grundsätzliche Ideen. So schlägt jemand vor, alle Politiker in Finanzausschüssen sollten zu einem sechswöchigen Praktikum bei einem Steuerberater oder in einem Finanzamt verpflichtet werden.
Ein anderer möchte allgemein "den ausufernden Staatsapparat und die Bürokratie eindämmen".
Grundsatzfragen bleiben offen
Die vielen sehr unterschiedlichen Ideen der Bürger offenbaren die ungeklärten Grundfragen. Kann eine (parlamentarische) Mehrheit alles beschließen, jedem geben und nehmen, wie es ihr beliebt? Soll, darf oder darf gerade nicht die Politik über Steuern das Verhalten der Bürger lenken?
Sich mit den vielen Vorschlägen auf der Website zu befassen, kann einen Einblick in die Vielfalt politischer Vorstellungen in diesem Land geben. Allerdings dürften sich nur wenige durch den Wust an Einzelideen klicken und lesen wollen.
Denn die Website bietet keinerlei Möglichkeit einer thematischen Sortierung. Es gibt keine Redaktion, die ähnliche oder gänzlich gleiche Einreichungen miteinander verknüpft und gegensätzliches zur Abwägung gegenüberstellt.
Allenfalls nach einzelnen Stichworten kann man suchen – allerdings nicht begrenzt auf die Debatte zu "gerechten Steuern und Finanzen", sodass beispielsweise zum Begriff "Zucker" nicht nur Besteuerungsvorschläge erscheinen, sondern auch Beiträge aus früheren Bürgerkonsultationen zu ganz anderen Fragen.
Steuerdebatte ohne Debatte
Was ebenfalls fehlt, ist eine Möglichkeit für tatsächlichen Dialog. Eine Bürgerin schlägt einerseits vor, Sozialversicherungsabgaben und Lohnsteuer zu streichen und stattdessen 100 Prozent Mehrwertsteuer zu erheben, womit sich alle Preise fast verdoppeln würden.
Andererseits möchte sie "die Mehrwertsteuer für Grundbedarfsartikel wie Klopapier, Binden, Windeln, Tampons, Kondome und Medikamente auf fünf Prozent senken".
Da wäre es gut zu erfahren, was alles Grundbedarf sein soll, welche Produkte und Dienstleistungen noch für die 100-Prozent-Mehrwertsteuer verbleiben und wie die entsprechende Berechnung dazu aussieht.
Begründung der Vorschläge nicht möglich
Doch es gibt keine Kommentarfunktion. Man kann keine Rückfragen stellen – und die Autoren können ihre Vorschläge auch nicht näher begründen, etwa mit Rechenmodellen oder Belegen.
Dazu befragt, erläutert Ina Poppelreuter, Pressesprecherin von Mehr Demokratie:
Die Online-Beteiligung soll die Debatte anschieben, und die Teilnehmenden dazu anregen, sich zu diesem Thema Gedanken zu machen und Vorschläge einzureichen. (...) Wir wollen die Beteiligung möglich simpel halten. Wir verstehen die Online-Beteiligung als Vorbereitung für die eigentliche, losbasierte Debatte. Wir wollen herausfinden, welche Inhalte und Ideen die Menschen bewegen. Daher haben wir uns entschieden, möglichst breit Vorschläge einzusammeln.
Ina Poppelreuter
Im Anschluss an die insgesamt einwöchige Beratung der ausgelosten Bürgergruppe soll die Diskussion in der Öffentlichkeit weitergeführt werden.
Große Fragen an die Steuerpolitik
Auf der Plattform Steuerdebatte.info bzw. beim Sofware-Dienstleister Make.org können die einzelnen Vorschläge abgestimmt werden.
Als besonders umstritten werden derzeit zum Beispiel die Abschaffung der CO2-Steuer und die Senkung der Rüstungsausgaben ausgewiesen.
Doch die Ausgangsfragen von Steuerdebatte.info wie die, welche Aufgaben der Staat überhaupt übernehmen soll und von wem diese dann wie zu finanzieren sind, bleiben damit ungeklärt. Vielleicht hat das Telepolis-Forum die besseren Antworten:
- Welche Aufgaben muss der deutsche Staat grundsätzlich in welchem Umfang erfüllen – und welche sind optional, also jeweils nach Wirtschaftslage und politischen Mehrheiten verhandelbar?
- Mit welchem Steuermodell sind diese Pflichtaufgaben des Staates am gerechtesten zu finanzieren?
- Welchen Einfluss sollten die Bürger insgesamt (oder nur die jeweiligen Steuerzahler) auf die Erhebung und Verwendung von Steuern für die optionalen Staatsaufgaben haben, und wie ließe sich dies umsetzen?