AIDS als koloniales Überbleibsel
Der segenreiche Kolonialismus hat es sogar fertiggebracht, Viren die Überwindung der Artenschranke zu ermöglichen - Teil 1
Die Viren wurden so erfolgreich, dass man sie jetzt als Geißel der Menschheit bezeichnet. Mit Ausnahme des Happy End enthält die Geschichte jedoch alle Elemente kolonialer Erfolgsstories: wissenschaftlichen Pioniergeist, das Gesundheitswesen, Eisenbahnen, neuen Wohlstand, Konsum und die Überwindung traditioneller Stammesschranken.
Die guten alten Zeiten...
Im Gleichklang zur europäischen Militärpräsenz in der Dritten Welt regen sich Stimmen aus Politik und Wissenschaft zur Weißwaschung der kolonialen Vergangenheit. Das französische Parlament verabschiedete 2005 die Forderung an das Schulwesen zur Betonung der positiven geschichtlichen Rolle Frankreichs in Übersee. Der britische Bildungsminister Michael Gove beklagte die negative Darstellung des Empire an Schulen. Günter Nooke, Afrikabeauftragter der deutschen Bundesregierung zitierte 2018 einen "Experten" mit der Aussage, dass der Sklavenhandel zwar schlimm gewesen sei, doch habe die europäische Herrschaft in Afrika "dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen". Zeitgleich liefen Verhandlungen der Bundesregierung mit Namibia über eine Entschuldigung wegen des Völkermordes an den Herero und Nama.
Unter Wissenschaftlern lässt sich diese Revue fortsetzen. In seiner "Weltgeschichte der Sklaverei" stellte der Althistoriker Egon Flaig fest, der europäische Kolonialismus habe "Afrika nach einer 1000-jährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden die Möglichkeit zu neuen Wegen eröffnet".
Nach dem britischen Historiker Bruce Gilley war die Kolonialzeit, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, die erfolgreichste Periode der kolonisierten Länder, sodass er den Belgiern aus reiner Menschenliebe empfahl, wieder in den Kongo zurückzukehren.1 Harvard-Professor Niall Ferguson ruft die amerikanischen Eliten unverhüllt auf, dem Vorbild des britischen Empire zu folgen.2
Hier wird gezeigt, wie der koloniale Kapitalismus einem Virus half, die Artenschranke zu überwinden. Die nachfolgenden Fakten und Thesen stützen sich größtenteils auf das Buch "The Origins of AIDS"3 des kanadischen Forschers und Arztes Jacques Pépin, der wichtige Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zusammenfasst. Sie wurden teilweise durch aktualisierte Zahlen ergänzt. Die Thematik wird außerdem in der sehenswerten Dokumentation von Carl Gierstorfer beleuchtet.4
Nach einer HIV-1-Infektion blieb den damals Betroffenen kaum eine längere Lebensspanne als zwölf Jahre und die ersten Generationen der Opfer starben lange vor der Entdeckung des Virus. Somit fehlen zwangsläufig einige exakte Beweise im Puzzle. Dennoch zeigen die folgenden Beispiele deutlich, welche unvorstellbaren Möglichkeiten die koloniale Ära einem Virus eröffnete, den evolutionär aufwändigen Sprung zu einem neuen Wirt zu bewältigen.
Von SIV zu HIV
Das HI-Virus forderte im nachkolonialen Afrika bereits Tausende Opfer, bevor es im Rest der Welt überhaupt wahrgenommen wurde.5 Als AIDS gegen Ende der 1970er Jahre erstmals in der westlichen Welt in Erscheinung trat, hielt man es für einen speziellen Krebs unter Homosexuellen. Hier wurde eine Folge mit der Ursache verwechselt. Beim Kaposi-Sarkom, einer Hauterkrankung, handelt es sich in Wirklichkeit nur um eine der möglichen Begleiterscheinungen der Immunschwäche. Es wird durch das sexuell übertragbare Herpesvirus 8 ausgelöst.
Entdeckt wurde das HI-Virus schließlich 1983, doch es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis sich durch Stammbaumanalysen der DNA seine Herkunft und Entstehungszeit rekonstruieren ließen.
Tabelle 1: Typen von HIV, Überträger und Übertragungszeiträume. (Bei wenigen Fällen ist der Zeitraum nur ungenau oder nicht bestimmbar.) | ||||
Typ | Gruppe | Verbreitung | Überträger | Zeitraum |
HIV-1 | M | weltweit | Schimpanse | 1908-1933 |
N | wenige Fälle (Kamerun) | Schimpanse | 1948-1977 | |
O | zumeist Westafrika | Schimpanse, evtl. Gorilla | 1890-1940 | |
P | Einzelfall (Kamerun) | Schimpanse | unbekannt | |
HIV-2 | A | zumeist Westafrika | Ruß-Mangabe | 1906–1956 |
B | zumeist Westafrika | Ruß-Mangabe | 1907–1961 | |
C bis H | Einzelfälle (Westafrika) | Ruß-Mangabe | unbekannt |
Grundlegend unterscheidet man zwei HIV-Typen, die sich in mehrere Gruppen unterteilen lassen. Inzwischen ist erwiesen, dass sich jede Gruppe auf eine einzige Übertragung von Menschenaffen (für HIV-1) sowie einer Meerkatzenart (für HIV-2) zurückführen lässt. Auffällig ist, dass sie allesamt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten. Für die überwiegende Mehrzahl der AIDS-Opfer ist die Übertragung auf Patient Zero von HIV-1 M verantwortlich. Diese Gruppe hat sich inzwischen in eine Vielzahl von Untergruppen aufgespalten, welche eine einheitliche Behandlung erschweren. Besonders weitgefächert sind die zentralafrikanischen Mutationen, welche eine Entstehung der Seuche auf dem afrikanischen Kontinent nahelegen.
Das entsprechende Virus bei Affen wird als SIV (Simian immunodeficiency virus) bezeichnet, wobei auch hier verschiedene Gruppen unterschieden werden. Nach einer Übertragung auf Menschen benötigte es erst eine Reihe von Mutationen zur Anpassung an seinen neuen Wirt. Ein wesentlicher Optimierungsbedarf bestand bei der Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch.
Fleisch von Schimpansen steht bei einigen zentralafrikanischen Völkern auf der Speisekarte. Die Erstübertragung geschah vermutlich auf einen Jäger oder Koch, der mit dem Blut eines erjagten Tieres in Kontakt kam. Dabei ist interessant, dass HIV unter den traditionell ohne Feuerwaffen jagenden Pygmäen ausgesprochen selten ist. Stattdessen verbreitete es sich über Angehörige von Bantu-Völkern, die von der Landwirtschaft leben und die Jagd nur gelegentlich betreiben. Selbst die wenigen Fälle von HIV bei Pygmäen scheinen von benachbarten Bantu-Bauern übertragen worden zu sein.
Das Anfangsrisiko-Modell
Nehmen wir die Zeit um 1921 als möglichen Startpunkt von HIV-1 Gruppe M, welche im Jahre 2017 für weltweit fast 37 Millionen Infizierte verantwortlich war. Eine Rechnung soll abschätzen, wie viele Personen damals durch Schimpansen SIV-infiziert waren. Da unbekannt ist, welcher Bevölkerungsanteil aus den entsprechenden Gebieten einem Direktkontakt ausgesetzt war, benutzen wir für diesen Parameter zunächst den aktuellen Wert. Durch Befragungen im südlichen Kamerun wurde ermittelt, dass gegenwärtig etwa 0,1 % der erwachsenen Bevölkerung aus Dörfern im Umfeld von Schimpansen tatsächlich über die Jagd oder Küche mit rohem Schimpansenfleisch in Berührung kommen.
Nicht alle Schimpansen, sondern nur die Unterart Pan troglodytes troglodytes kommt als Überträger zu HIV-1 in Frage. Da die Tiere relativ ortsfest leben, lässt sich das Territorium der Erstübertragung eingrenzen. Zur Abschätzung der Personenzahl, die um 1921 durch Direktkontakt infiziert gewesen sein könnten, benutzen wir die folgenden Daten6:
Nach Volkszählungen lebten damals 1,35 Millionen Erwachsene in den Verbreitungsgebieten von Pan troglodytes troglodytes. Etwa 0,1 % davon waren gelegentlich mit der Jagd oder Zubereitung von Schimpansenfleisch beschäftigt.
Der Anteil SIV-infizierter Pan troglodytes troglodytes liegt bei 5,9 %. Nehmen wir an, dass dieser Wert unverändert geblieben ist.
Für das Übertragungsrisiko von einem SIV-infizierten Tier auf den Jäger oder Koch wird der Wert 3 %. angenommen. (Dieser Wert orientiert sich am Zehnfachen des entsprechenden Infektionsrisikos von medizinischem Personal bei HIV-infizierten Patienten, wie es bis Anfang 1990 auftrat.)
Multiplikation ergibt 1,35 x 106 x 10-3 x 5,9 x 10-2 x 3 x 10-2 = 2,3.
Damit können wir von etwa zwei Infizierten ausgehen, welche das Virus noch an ihre Ehepartner und schlimmstenfalls ihre Kinder übertragen konnten.
Das Modell liefert also höchstens eine Handvoll Direktinfizierte, von denen einer zum Ausgangspunkt der Pandemie wurde. Bereits hier lässt sich vermuten, dass es noch weitere Faktoren zur Begünstigung der Seuche gab. Anderenfalls müsste unser ländlicher Kandidat entweder stark vom Zufall erwählt oder mit seiner gesamten Umgebung ein Sexualleben bis an die physischen Grenzen geführt haben. SIV ist bei Menschen über heterosexuelle Intimkontakte längst nicht so einfach wie HIV-1 übertragbar. Bei letzterem liegt das Risiko pro Intimkontakt im Schnitt bei 0,1 %, falls sich der infizierte Partner nicht gerade in der hochansteckenden Anfangsphase befindet.
Nun bleibt zu prüfen, wie sich unser Modell mit der vorkolonialen bzw. kolonialen Wirklichkeit verträgt.
Die vorkoloniale Lebenswelt
Vergleicht man die Daten 1) bis 3) mit der vorkolonialen Situation, so lag die Kontaktrate aus 1) vermutlich tiefer als 0,1 %, da Jagderfolge seltener waren. Die in Verbänden lebenden Schimpansen sind nicht nur intelligent, sondern auch robust genug, sodass die Jagd für einen Bauern ohne Feuerwaffen sehr aufwändig wäre. Der Bogen besitzt eine geringere Reichweite und aus traditionellen Fallen können sich die geschickten Tiere oft befreien. Außerdem war das Verkehrsnetz damals weniger ausgebaut und ersteckte sich nicht in den Dschungel, der für einen Gelegenheitsjäger wie den einheimischen Bauern fast nur in der Trockenzeit passierbar war. Solange Schimpansen nicht die Felder angriffen, wurden sie von den Bantu-Bauern eher in Ruhe gelassen. Die Zahl von zwei Infizierten war also eher an der Obergrenze.
Veränderungen durch die Kolonisation
Nach der territorialen Aufteilung zu Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Lebensweise großer Bevölkerungsteile grundlegend. Reichtümer wie Elfenbein, Kautschuk und Holz lagen den europäischen Geschäftsleuten, allen voran dem belgischen König Léopold II, zwar buchstäblich zu Füßen, doch sie mussten abgeholt werden. Die gesetzlich eingeführte Zwangsarbeit sicherte die billigen Arbeitskräfte, welche ohne Beachtung gesundheitlicher Risiken weiter und weiter ins Landesinnere geschickt wurden. Skrupellosigkeit wurde zur wichtigsten unternehmerischen Voraussetzung.7 Eine anschauliche Schilderung dieser Beutezüge in einer weitgehend menschenfeindlichen Wildnis findet man in Joseph Conrads Kongo-Roman "Heart of Darkness".
Natürlich mussten die Arbeiter vor Ort ernährt werden, weshalb der Jagd eine entscheidende Bedeutung zukam. Da sie (von den Aufsehern) mit Gewehren betrieben wurde, rückten auch Schimpansen ins Beutespektrum. Das Ausmaß dieser Wilderei ist schwierig abzuschätzen. Unstrittig dokumentiert durch Edmund Morel, waren Waffen und Munition der wichtigste Importartikel für Léopolds Congo-Freistaat. Ihre Anwendung lässt sich daran ermessen, dass bereits zu Beginn des Jahrhunderts warnende Stimmen auf die Ausrottung ganzer Arten hinwiesen. Auch die Schimpansen waren gefährdet, denn ihre Jagd wurde schließlich in den französischen Territorien mit hohen Steuern belegt und im belgischen Teil sogar verboten. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass die Verbote damals mehr Wirkung als heute zeigten. In den ausgedehnten und entlegenen Territorien waren sie praktisch nicht durchsetzbar.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Jagdkontakte mit Schimpansen zu Beginn der kolonialen Periode wahrscheinlich angestiegen sind. Die Rate bei 1) lag höher als 0,1 % und die Zahl von zwei Infizierten damit näher an der Untergrenze.
In den folgenden Artikeln wird gezeigt, welche weiteren Faktoren die Verbreitung des Virus begünstigten und schließlich zur Epidemie führten:
Teil 2: Was konnte den HI-Virus zur Seuche werden lassen?
Teil 3: Der alte weiße Mann und die Seuche AIDS
Teil 4: Bis in die 1930er Jahre gehörte die Zwangsarbeit zu den wichtigen Wirtschaftsfaktoren
Teil 5: AIDS im nachkolonialen Afrika - Auftakt zur Epidemie
Dr. Raj Spielmann ist Mathematiker und Autor des Buches "Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Mathematische Anwendungen in Natur und Gesellschaft", das im Verlag Walter De Gruyter erschienen ist.
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