ARD-Tatort aus Kiel: Leichen liegen auf den Deichen, Mutter bei den Fischen
Axel Milberg als Tatort-Kommissar Borowski. Foto aus der Folge: "Borowski und das Meer". Bild: NDR/Christine Schroeder" (S2). NDR Presse und Information/Fotoredaktion
Killen in Kiel: Wer ist Borowski? Vom Kotzbrocken zum Kultkommissar. Zum Abschied einer außergewöhnlichen "Tatort"-Figur.
Und wie erquicklich die Luft auf diesen Deichen weht! Ich komme eben heim; wo hätte ich besser den Sonntagmorgen feiern können!
Theodor Storm
Die Kirchen sind karg, die Wohnungen sind karg, die wenigen Restaurants sind karg. Man sitzt da einsam zitternd in seinen gelben Öljacken bei fünf Grad, trinkt Grog und sagt: Was für ein herrlicher Tag! Keiner dreht und wendet sich vorm Spiegel und überlegt sich: Wie sehe ich aus? Wie komme ich an? Was denken die anderen?
Axel Milberg, 2003 über Kiel
Er ist ein Teil unseres Lebens: Seit 2002 ermittelte Klaus Borowski in Kiel – ausgerechnet Kiel. Wieso? Wer will denn da hin?
Axel Milberg kommt von dort, und so ähnlich wie der Sportphilosoph Gunter Gebauer, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp und sogar Wolfgang Kubicki hatte er vermutlich gute Gründe, von dort wegzugehen.
Als Borowski ist er zurückgekommen. 2003, für 23 Jahre und 44 "Tatort"-Fälle. Von Anfang an war er ein außergewöhnlicher Tatort-Kommissar. Das ging schon los vor dem "Tatort", mit "Stahlnetz: PSI", dem letzten Film aus der legendären, von Jürgen Roland und Büchern von Wolfgang Menge 1958 begründeten, "Stahlnetz"-Reihe. Dort spielte Milberg den in Hannover ermittelnden Klaus Borowski, der sich am Ende des Films nach Kiel versetzen lässt.
Inzwischen ist Borowski im Rentenalter, Milbergs Sohn schon über das Abi hinaus und Holstein Kiel für eine Saison in die Fußball-Bundesliga gekommen.
Gestern Abend lief Borowskis letzter "Tatort". Zeit für einen Rückblick.
Der Beste im Norden: "Natural born Kieler"
Er war der "Kotzbrocken aus Kiel", vom "Soziopath" schrieb die taz schon nach seinem ersten Fall, Borowski begann zunächst ziemlich unausstehlich, ein Choleriker mit Neurosen. Aber von Jahr zu Jahr wurde er etwas angenehmer.
Zugleich nahmen die Neurosen auch bei seinen "Tatort"-Einsätzen viel Platz ein. Aus den erzwungenen regelmäßigen Sitzungen bei der Therapeutin Frieda Jung (Maren Eggert) wurde eine Liebesgeschichte, die traurig endete. "Als Gast" ist Jung in der Abschlussfolge präsent, und weil dies beim zweiten Mal kein Tagtraum sein muss, gibt es für Borowski noch Hoffnung.
Fachlich war er ein "Knochenjäger". Als Profiler begann Borowski, jagte Serienmörder, etwa den von Lars Eidinger gespielten in drei Folgen, und das machte etwas Neues mit der "Tatort"-Welt: Borowski war immer ein Außenseiter, eine Art eigenbrötlerischer Gast mit skurrilen Mätzchen, wie die, dass er In Westernmanier seinem liegengebliebenen VW-Passat den Gnadenschuss gab.
Axel Milberg hat diese Figur sehr schlau entwickelt: Zum sensiblen Abgeklärten, der immer noch macht, was er will, aber zu Kollegen freundlicher ist. Da waren die Assistenten Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh, 2003–2006), Psychologin Frieda Jung, 2003–2010; Kommissarin Sarah Brandt (Sibel Kekilli), 2010–2017; und seit 2018 Kommissarin Mila Sahin (Almila Bagriacik). Sie wird weiter in Kiel ermitteln.
Manches bewegt sich im Kreis, wie die erwähnte Beziehung zur Psychologin. Oder das T-Shirt auf dem "Natural born Kieler" draufstand. Im gestrigen Film war Borowski damit zu sehen, als Teil eines bösen Scherzes des letzten Kieler Killers. Tatsächlich aber hatte Milberg ein solches T-Shirt geschenkt bekommen, damals 2003 zum Abschiedsfest seiner ersten "Tatort"-Folge.
Mörderisches Muttersöhnchen
Borowskis Abschied "Borowski und das Haupt der Medusa" beginnt klassisch: Einblicke ins Leben einer reichen bürgerlichen Familie. Milieu und Inneneinrichtung des Bungalows sehen aus, wie aus Filmen der 1970er-Jahre, als das Nazitum noch vollkommen intakt ist, und in diesen Bungalows die 60- bis 70-jährigen ehemaligen NSDAP-Parteimitglieder wohnten.
Er heißt Bobbele und hat dreckige Finger, blutige, herunter gekaute Fingernägel. Eines jener Muttersöhnchen, die auf die Fragen ihrer Mütter nicht mehr antworten, weil sie schon wissen, wie die Antworten lauten. Irgendwann landet der Kopf der Mutter im Aquarium, und Borowski kommt vier Tage vor der Pensionierung einem letzten Serienmörder auf die Spur – mit Perfektion pervers gespielt von August Diehl. Hier heißt er Robert Frost, nicht nur, weil er Eiseskälte in sich trägt.
Seine ihn ständig gängelnde Mutter wird von Corinna Kirchhoff gespielt, bis sie der Sohn brutal um die Ecke bringt. Nach dem Erdrosseln zersägt er die Leiche, löst sie in Säure auf und entsorgt Überreste der Mutter in der Kieler Förde. Die Fische werden es ihm danken.
"Wir haben hier Berliner Zustände"
Wenn da nur Borowski nicht wäre. Er hat alle Zeit der Welt. Er trauert immer noch um seine große Liebe, die Psychologin. Auf dem Amt, wo er einen neuen Pass beantragen will, heißt es einmal:
"Wir haben hier Berliner Zustände" – Borowskis Antwort: "So schlimm?"
Dann sieht Borowski das Foto eines düsteren Hauses und es weckt Jugenderinnerungen. Als Schüler ging er an dem Haus täglich vorbei. Bis heute gruselt es ihn davor – und schon weicht die vage Idee eines Urlaubs im Ruhestand dem Instinkt des Mordermittlers. Seinen Abschied scheint er zu ignorieren. Dabei bleiben ihm nur wenige Tage bis Dienstende.
Borowski kommt Frost auf die Spur, der eine Reise mit der Mutter vorgetäuscht hat. Er ermittelt auf eigene Faust.
Borowskis Abschied war ein außergewöhnlicher "Tatort" auf hohem Niveau in den allermeisten Bereichen. Getragen von der auffallend guten Musik von Dorit Chrysler, getragen natürlich auch von der melancholischen Stimmung, dem Abschiedshauch, der alles durchzog.