Abgeschreckte Wähler und unbeabsichtigte Folgen
Mark Lilla und Anis Shivani empfehlen den US-Demokraten den Abschied von der Identitätspolitik
In den 1980er Jahren, als Ronald Reagan den Demokraten mit einer an religiöse Wähler appellierenden Politik die Südstaaten abgenommen hatte (die für die ehemalige Partei der Sklavenhalter vorher das Stammland waren), entstand in dieser Partei (die sich in ihrer Geschichte mehrfach grundlegend wandelte) die Idee, mit Hilfe einer "Rainbow Coalition" aus Minderheiten neue politische Mehrheiten zu gewinnen. Fast vier Jahrzehnte und mehrere schmerzliche Niederlagen später zweifeln Beobachter jedoch daran, dass diese Rechnung langfristig aufgeht: Nach dem Ideengeschichtsprofessor Mark Lilla (der aus einem viel beachteten New-York-Times-Artikel dazu ein Buch machte) empfahl jetzt auch Anis Shivani, der Autor von Why Did Trump Win? in Salon den US-Demokraten den Abschied von der Identitätspolitik.
Lilla kritisiert, dass "das klassische demokratische Konzept, Menschen unterschiedlichster Herkunft hinter ein einziges gemeinsames Anliegen zu scharen", "einer Pseudopolitik gewichen [sei], die sich in Selbstbespiegelung und Selbstbehauptung erschöpft" und Symbolen eine "unverhältnismäßige Bedeutung" zukommen lässt. "Was diese Tendenz am Leben hält", ist seinen Beobachtungen als Professor an der New Yorker Columbia-Universität nach "die Tatsache, dass sie an den Colleges und Universitäten kultiviert wird", wo Studenten inzwischen "derart besessen von ihren persönlichen Identitätsfragen", seien, dass sie "wenig Interesse für die politische Welt außerhalb ihrer eigenen Köpfe" hätten.
Rezente und anschauliche Beispiele für diese These wären Fächer wie "Fat Studies" (wo man Kritik an Übergewicht als "Weightism" tabuisiert) oder die gewalttätigen Ausschreitungen am Evergreen College (vgl. US-Justizministerium will Diskriminierung durch Quotenregelungen untersuchen). Dort verzeichnet man inzwischen einen deutlichen Rückgang der Bewerberzahlen. Die University of Missouri, eine andere Hochschule, die Identitätspolitikaktivisten in den letzten Jahren so große Freiräume ließ, dass sie damit weltweit Schlagzeilen machte, muss diesen Herbst sogar fünf Schlafsäle schließen. Dass moderatere Universitäten währenddessen weiterhin Bewerber abweisen müssen, deutet darauf hin, dass andere Ursachen beim Bewerberrückgang in Missouri und Evergreen wahrscheinlich nicht die Hauptrolle spielen.
Öffentliche Beicht- und Bußrituale
Für den Rückgang der Wähler der Demokraten im letzten Jahr stehen dagegen mehrere plausible Ursachen zur Auswahl: Eine interventionistische Kandidatin (vgl. Hat Clinton die Wahl wegen Kriegsmüdigkeit der Amerikaner verloren?) mit extrem niedrigen Glaubwürdigkeits- und Sympathiewerten (aber engen Verbindungen zur Wall Street), ein Parteiapparat, der bei der Kandidatenauswahl falsch spielte (wie durch geleakte E-Mails herauskam) und eine Verantwortung für Freihandelsabkommen wie NAFTA. Lilla meint, dass auch die Identitätspolitik eine wichtige Rolle spielt, weil sich die Demokraten mit manchen ihrer fanatischen Anhänger (ähnlich wie die Republikaner in mit manchen religiösen Fundamentalisten) Extremisten eingefangen haben, die inzwischen viele Amerikaner abschrecken.
Die Black-Lives-Matter-Bewegung, die 2015 Bernie-Sanders-Wahlveranstaltung störte, (vgl. Whose Black Lives Matter?) ist für ihn
ein Paradebeispiel dafür, wie man Solidarität zerstört statt aufbaut. Die Bewegung hatte die Misshandlung von Afroamerikanern durch die Polizei angeprangert: Das war ein Weckruf für jeden Amerikaner, der ein Gewissen in sich trägt. Aber als die Bewegung diese Misshandlungen zur Basis einer grundsätzlichen Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft machte und öffentliche Beicht- und Bußrituale zu fordern begann, spielte sie damit lediglich den Republikanern in die Hände.
Dialektik der Identitätspolitik
Anis Shivani glaubt darüber hinaus, dass eine ungehindert wuchernde und von der Politik und den Medien geförderte Identitätspolitik ungewollt dazu beitrug, das Phänomen "White Nationalism" zu nähren, weil Gruppen Strategien anderer Gruppen imitieren, wenn diese erfolgreich scheinen. Als Kronzeugen für diese These zitiert er den weißen Identitätspolitiker Richard Spencer, der als Führer der "Alt-Right" gilt, seit US-Leitmedien den Begriff (der früher vor allem für 4chan-Prankster stand), den Begriff für seine Ideologie verwenden.
Die Verwendung des ursprünglich auf die Computertastatur anspielenden Begriffs für Spencers Ideologie inspirierte Donald Trump dazu, den Begriff "Alt-Left" (der vorher linken Kritikern der "Ctrl-Left" als Eigenbezeichnung diente) auf ideologisch stramm auf identitätspolitische Anliegen ausgerichtete Antifa-Autonome anzuwenden, über die inzwischen auch die eher den Demokraten nahestehende Washington Post schreibt: "Yes, antifa is the moral equivalent of neo-Nazis." Vorher hatten sich die schwarz Vermummten in Berkeley dabei filmen lassen, wie sie mit "No-Hate"-Schildern auf Menschen einschlugen. Danach sprach sich auch der dem identitätspolitikgläubigem Flügel der Demokraten zugehörige Bürgermeister von Berkeley dafür aus, diese Subkultur als "Street Gang" zu klassifizieren.
Dass Positionen, die aus identitätspolitischen Erwägungen heraus die Meinungsfreiheit einschränken wollen, in den USA zumindest aktuell nicht mehrheitsfähig sind, zeigt eine am 23. August veröffentliche Rasmussen-Umfrage. In ihr bekennen sich 85 Prozent der Befragten zur Ansicht, dass die Redefreiheit wichtiger ist als die Befindlichkeiten von Individuen oder Gruppen, die sich dadurch gekränkt fühlen könnten. 73 Prozent stimmen zudem dem gemeinhin Voltaire zugeschrieben, aber tatsächlich von Evelyn Beatrice Hall stammenden Satz zu: "Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen."