Abgewickelt: Wie der DDR-Sport demontiert wurde

Luca Schäfer
DDR-Trainingsjacke mit Goldmedallie

Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das DDR-Sportsystem aufgelöst und zerstört. Warum ein anderer Umgang sportpolitisch sinnvoll gewesen wäre. Eine Analyse.

Er war der Gentleman unter den Boxern: eloquent, virtuos im Ring, mit Charisma und Persönlichkeit gesegnet – und ostdeutsch. Henry Maske ist das strahlende Gesicht einer gelungenen Transformation des Frankfurt/Oder Haudegens zum marktkonformen Experten.

Das Zweite Deutsche Fernsehen bedachte ihn unlängst mit einer sehenswerten Dokumentation über sein Comeback-Versuch 2007. Nach seiner Karriere war der heute 61-Jährige mehrfacher Franchisenehmer der Fast-Food-Kette McDonald’s.

Sein Durchbruch gelang ihm bei den Olympischen Spielen 1988: im Trikot des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Doch der heutige Wahlkölner ist eine Ausnahme: Abgesehen von einigen glänzenden ostdeutschen Fußballgrößen wie Sammer, Rösler oder Ballack ist der Ost-Sport mitsamt seiner Philosophie und Sportstätten "abgewickelt". Was hätte übernommen werden sollen?

Fossil des Kalten Krieges

Zunächst einmal: Medaillen und Erfolge. Insgesamt errang die kleine DDR 519 olympische Medaillen und überflügelte (1968–1988) damit die Bundesrepublik im "Ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Spiele" um mehr als das Doppelte.

Noch heute rangiert sie in der ewigen Tabelle auf einem der vorderen Plätze, obwohl das Land seit mehr als drei Jahrzehnten keinen Wettkampf mehr bestritten hat.

Insbesondere die bundesdeutsche Medaillenjagd befindet sich seit Jahren auf dem absteigenden Ast: In Tokio gab es gerade einmal 37 Edelmetalle zu bejubeln. Der olympische Medaillenspiegel erhielt laut Frankfurter Rundschau gerade als "Relikt des Kalten Krieges" kaum Sendezeit in den öffentlich-rechtlichen Programmen.

Integrierter-ganzheitlicher Ansatz

Erfolg ist kein Zufallsprodukt. Der DDR-Sport, insbesondere der durch Partei und Staat geförderte Spitzensport, war zentral organisiert, im Deutschen Turn- und Sportbund zusammengefasst und hierarchisch von der Kreis- über die Bezirks- bis zur Landesebene strukturiert. Zudem war Sport als Schulfach in das gesellschaftliche Bildungs- und Gesundheitssystem eng eingebunden.

Durch eine vereinheitlichte Talentsichtung auf Basis wissenschaftlicher und je nach Sportart individueller Kriterien wurden die besten Talente des Landes gefunden und in gesonderten Sportzentren speziell gefördert.

Auch wenn der Fokus auf dem leistungsbezogenen, prestigeträchtigen Spitzensport lag, kam der Breitensport nicht zu kurz. Mit dem zentralen Stellenwert der kollektiven Arbeit nahmen die Betriebssportgemeinschaften der jeweiligen Betriebe einen immanent gemeinschaftsfördernden Zentralplatz ein.

Noch heute ist die ostdeutsche Fußballlandschaft, zumeist in den Niederungen der heutigen Ligen vorzufinden, vom Mantra des Arbeitersport geprägt. Vereine mit klangvollen Namen wie Carl Zeiss Jena (Betrieb für Optik und Feinmechanik in Thüringen) oder Lokomotive Leipzig (benannt nach der Industriegewerkschaft Eisenbahn der DDR) belegen dies bis heute.

Wettkampfende 1990

Mit dem Zusammenbruch des sowjetisch orientierten Staatsmodells kommt auch die sportliche Struktur Ost-Berlins jäh zum Erliegen. Wie eine aktuelle Sportschau-Reportage anhand von Zitaten damals Beteiligter und Forschender zum Thema nahelegt, mag die Ausschaltung durchaus überlegener Konkurrenz ein Motiv gewesen sein.

Durch den schon Ende 1989 beginnenden Abbau von Fördermitteln ist der DTSB zu weitgehender Passivität verdammt. In der Folge wird dem Zentralverband durch den fiskalpolitischen Kniff der Aberkennung der Gemeinnützigkeit die finanzielle Grundlage entzogen.

Es folgt der formal freiwillige Zusammenschluss unter westdeutscher Suprematie. Im DSB sowie in dessen Nachfolgeorganisation DOSB (seit 2006) gaben an der Spitze nur westdeutsche Funktionäre den Ton an.

Ende, Aus, arbeitslos

Für die im Sportbereich der DDR tätigen Menschen bedeutete das Jahr 1989/90 in der Regel eine harte Zäsur in ihrem beruflichen Werdegang. Viele Strukturen und Menschen wurden als "ideologisch belastet" deklariert und entlassen.

Getreu einer westlichen "Übernahme" wurden von 10.500 hauptamtlichen DTSB-Mitarbeitern gerade einmal 600 weiterbeschäftigt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung spricht von einer "massiven Kündigungswelle".

Während der DTSB zu DDR-Zeiten noch 1989 3,7 Millionen Mitglieder (20 Prozent der Gesamtbevölkerung) auswies, schlossen sich in den neuen Bundesländern nur noch 1,1 Millionen Menschen Vereinen an.

Mit den Personen ging das Know-how verloren: So wurden allein beim Abriss der Leipziger Hochschule kilometerlange Dokumente an wertvollen Trainingslehren vernichtet, die dem damaligen Stand der Technik entsprachen.

Ohne formale Aufgabe verfielen hunderte Sportanlagen, insbesondere der Betriebe, dem Zahn der Zeit – ihnen war schlichtweg Belegschaft und Betrieb abhanden gekommen. Der infrastrukturelle Verfall diverser Kampfbahnen, Seelenbinder-Hallen oder Kleinfeldanlagen ist statistisch bis heute nicht erfasst.

Nützliches Narrativ

Was heute auf Verwunderung stoßen mag, musste damals – im Sinne westdeutscher Allmachtsfantasien – ideologisch abgesichert werden.

Schon ab März 1990 tauchten erste vermeintliche Beweise für düstere Stasi-Verstrickungen im DDR-Sport sowie Hinweise auf ein angebliches staatliches Doping-Programm auf. Das Staatsplanthema 14.25, im Jargon der historischen Sieger auch Staatsplan "Sieg" genannt, wurde Dreh- und Angelpunkt der Sport-Rezeption.

Die Akribie der ideologisch konnotierten Aufarbeitung beeinflusste sowohl die Reputation ostdeutscher Einrichtungen als auch politische Entscheidungen, führte zu Gerichtsverfahren sowie Entschädigungsforderungen.

Neben der Tatsache, dass auch im Westen und insbesondere in der Zeit nach der DDR kräftig nachgeholfen wurde, greift der Sporthistoriker Giselher Spitzer den Doping-Aufarbeitungs-Eifer als "Forschungsproblem" an: So sei die Datenlage lückenhaft und vermeintliche Erkenntnisse basieren auf politisch motivierten, retrospektiven Einzel-Erinnerungen. Das Zerrbild, in welchem einzelne Ausnahmefälle zu einer staatlichen Systematik stilisiert werden, lässt sich nach wissenschaftlichen Kriterien anzweifeln.

Nicht jede Spitzenleistung sei automatisch auf Doping zurückzuführen, sondern auch durch intensive Förderung, professionelle Trainings- und Wissenschaftsstrukturen erreichbar. Während angeblich zehntausende Sportler betroffen waren, bleiben die gesundheitlichen Langzeitfolgen von SED-Unrecht nach wissenschaftlichen Erhebungen "gering".

Späte Genugtuung

Die Deutsche Hochschule für Körperkultur aus Leipzig musste wegen wirtschaftlicher Sachzwänge und angeblicher Altlasten (Stichwort: Doping) zum 1. Januar 1991 schließen.

Die unter den Beschäftigten als Liquidierung wahrgenommene Schließung einer "Hochschule mit Weltruf" verschaffte der Deutschen Sporthochschule Köln die unangefochtene Pole-Position. Nur Nuancen an institutionalisiertem Wissen konnten in die bemitleidenswert kleine Sport-Fakultät der Universität Leipzig übertragen werden.

Es wurde verpasst, einen nützlichen Wissenstransfer zu bewahren. Trainingslehre, Talentsichtungen, die Verzahnung mit Schule und Betrieb sowie die soziale Ader von Sport hätten übernommen werden können. Abseits der Doping-Märchenstunde hätte die sportmedizinische Verzahnung gewinnbringend sein können.

Soziale Durchlässigkeit, geringe Fragmentierung und der Gegenentwurf zur föderalen Vereinsmeierei hätten Impulse sein können.

Als späte Genuugtung bietet die Universität Leipzig seit dem Wintersemester 2025/26 einen Bachelor-Studiengang Trainerausbildung an, dessen unverhohlenes Vorbild: die Studiengänge der DhfK.