"Abriegelung von Gaza dürfte ein Kriegsverbrechen darstellen"

Palästinenser transportieren am 9. Oktober 2023 Verletzte in ein Krankenhaus im Norden des Gazastreifens. Bild: Wafa, CC BY-SA 3.0

Auf den Terror der Islamisten folgt die Rache Israels. Humanitäre Helfer befürchten eine Katastrophe für Zivilsten. Ein Gespräch mit Riad Othman von Medico International.

Bei dem Großangriff islamistischer Gruppen vor gut einer Woche haben bewaffnete Islamisten in Israel rund 1.300 Menschen getötet und 3.621 verletzt, die überwiegende Mehrheit davon Zivilisten.

Bei massiven Angriffen der israelischen Streitkräfte auf Ziele in Gaza wurden dort fast 3.000 Menschen getötet und mehr als 10.000 verletzt.

Im Westjordanland wurden bei israelischen Angriffen 51 Menschen getötet und fast 1.200 verletzt.

Telepolis sprach mit Riad Othman, Nahostreferent der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international e.V., über die aktuelle Lage und die Perspektiven des Krieges.

Zehn Tage sind nun seit dem Angriff der Hamas auf Israel vergangen, bei dem mindestens 1.300 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden. Die israelischen Streitkräfte haben den Gazastreifen vollständig abgeriegelt. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zuletzt mehr als 2.808 Menschen bei Angriffen im Gazastreifen getötet und fast 10.850 verletzt. Was bedeutet dies aus humanitärer Sicht?

Riad Othman: Wir befinden uns inmitten einer humanitären Katastrophe. Es ist eine Krise, wie sie der Gazastreifen selbst im Vergleich zu den 16 Jahren der Abriegelung, in denen auch schon die Einfuhr aller Güter kontrolliert und reglementiert wurde, bis jetzt bisher nicht erlebt hat.

Auch das war schon vorher eine völkerrechtswidrige Abriegelung. Was wir aber jetzt sehen, diese komplette Abriegelung von Gaza, die Vorenthaltung von Strom, Wasser, Nahrungsmitteln, Medikamentenlieferungen, also von Lebensnotwendigem, dürfte ein Kriegsverbrechen darstellen.

Das wird auch mit Blick auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten in den Krankenhäusern deutlich. Dort fällt in den nächsten 15 bis 20 Stunden voraussichtlich der Strom aus, weil die Generatoren keinen Treibstoff mehr haben. Das wird zum Tod von Patientinnen und Patienten führen.

Riad Othman ist Nahostreferent der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.

Wie schätzt Medico die Reaktionen internationaler Organisationen wie der UN, aber auch der EU in dieser Situation ein? Wird die Situation ausreichend wahrgenommen und bewertet?

Riad Othman: Die Vereinten Nationen haben schon klar gefordert, dass der Evakuierungsbefehl der israelischen Armee für die 1,1 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des nördlichen Gazastreifens zurückgenommen werden muss.

Das Misstrauen auf palästinensischer Seite ist auf Grund der eigenen Vertreibungsgeschichte jedenfalls groß. Auch wenn es heißt, die Evakuierung müsse geschehen, damit die Armee die Hamas im Gazastreifen bekämpfen oder gar "vernichten" kann.

Israel hat übrigens auch für den südlichen Teil des Gazastreifens keine Sicherheitsgarantien abgegeben. Im Gegenteil, es wurde sogar ausdrücklich gesagt, man werde überall weiter militärisch zuschlagen, auch im Süden.

Deswegen fragen sich viele Menschen, warum sie im Süden an überfüllten Zufluchtsorten völlig unterversorgt ums Überleben kämpfen sollen, wenn sie dort wie auch zu Hause sterben können. Das mag zynisch klingen, aber so ist die Lage vieler Menschen und so treffen sie sehr schwierige Entscheidungen.

Ich befürchte, dass die befohlene Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem nördlichen Gaza-Streifen einschließlich der Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, die in bewaffneten Konflikten immer unter besonderem Schutz stehen, die Vorbereitung dafür sein könnte, dieses Gebiet weitgehend zu zerstören. Angesichts dieser reellen Möglichkeit und der ominösen Verlautbarungen von offizieller israelischer Seite finde ich die Reaktionen aus Europa nicht ausreichend.

Keine Möglichkeit zur Flucht für alle

Zuletzt wurden von der israelischen Armee Zeiten und Korridore für die Massenflucht festgelegt. Können 1,1 Millionen Menschen dieses Gebiet in kurzer Zeit überhaupt verlassen?

Riad Othman: In der definierten Zeit ist es absolut unmöglich, dieses Gebiet zu verlassen. Nicht alle verfügen über Transportmittel. Ein weiteres Problem ist, dass nicht alle das Gebiet verlassen können. Wir denken dabei an alte Menschen, Menschen mit Behinderung, Familien mit mehreren kleinen Kindern usw. Und dann sind da natürlich noch die Patientinnen und Patienten in den Krankenhäusern.

Die Krankenhäuser stehen – Sie haben es erwähnt – unter besonderem Schutz des humanitären Völkerrechtes.

Riad Othman: Trotzdem haben derzeit laut UN-Angaben 22 Krankenhäuser Evakuierungsbefehle von der israelischen Armee erhalten. Die sagen, sie haben mindestens 2.000 Patientinnen und Patienten, die überhaupt nicht transportfähig sind. Für all diese Menschen kann dieser Evakuierungsbefehl den Tod bedeuten.

Im Abrüstungsbericht 2022 der Bundesregierung heißt es: "Die Bundesregierung lehnt den unterschiedslosen oder gar gezielten Einsatz von Explosivwaffen gegen die Zivilbevölkerung entschieden ab und ist dem Ziel verpflichtet, die Zivilbevölkerung effektiv vor Folgen des Einsatzes von Explosivwaffen in dicht besiedelten Gebieten zu schützen."

Nun war Außenministerin Annalena Baerbock zu einem "Solidaritätsbesuch" in Israel, Bundeskanzler Olaf Scholz will es ihr am heutigen Dienstag nachtun. Wie schätzen Sie die Reaktion der Bundesregierung ein?

Riad Othman: Ich halte es für legitim und auch für angemessen, dass die Bundesregierung den israelischen Opfern der Hamas-Angriffe diese Solidarität zeigt und auch ihre Unterstützung für die israelische Bevölkerung klarmacht, die darunter leidet, dass aus Gaza unterschiedslos Raketen abgefeuert werden.

Ich halte aber eine "bedingungslose Solidarität", wie sie die Bundesregierung und verschiedene Politikerinnen und Politiker wiederholt bekundet haben, für hochproblematisch. Insbesondere angesichts der auch stetigen Verpflichtungen gegenüber Menschenrechten und dem Völkerrecht.

Was in Gaza gerade geschieht, das ist ja genau das, wogegen sich die Bundesregierung in der von Ihnen angesprochenen Initiative einsetzen will. Sie schreibt, sie sei verpflichtet, Menschen in solchen Situationen zu schützen und Schaden von ihnen abzuwenden.

Es werden gerade täglich Explosivwaffen in sehr dicht besiedelten urbanen und semiurbanen Räumen in Gaza eingesetzt. Und es ist absehbar, dass es hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung geben wird. Die gibt es ja jetzt schon. Das könnten Vertreter der Bundesregierung nun entsprechend ihrer Selbstverpflichtung ansprechen.

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