Abschiebung aller Flüchtlinge als Wahlversprechen: Ende des EU-Türkei-Deals?
Stichwahl in der Türkei: Erdogans Herausforderer einigt sich mit ultrarechter Kleinpartei auf Rauswurf aller Geflüchteten im Fall seines Wahlsiegs. Was das für Europa bedeuten könnte.
Wenige Tage vor der Stichwahl in der Türkei setzen beide Präsidentschaftskandidaten auf rechte Parolen. Dabei hatten linke Parteien extra auf eigene Kandidaten verzichtet und den Hauptherausforderer Kemal Kilicdaroglu unterstützt, um nach mehr als 20 Jahren Recep Tayyip Erdogan loszuwerden.
Doch Kilicdaroglu, der der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) angehört setzt nun deutlich erkennbar nicht auf diese linken und prokurdischen Stimmen – oder er geht davon aus, dass diese Wahlberechtigten jede Kröte schlucken werden, um sich Erdogans entledigen. Darunter auch die Ankündigung, 13 Millionen Geflüchtete aus dem Land zu werfen – was Fragen aufwirft, weil es nach Angaben der Vereinten Nationen gar nicht so viele in der Türkei gibt.
Getragen von einem islamistisch-ultranationalistisches Bündnis konnte Erdogan in der ersten Runde mit einigen Unregelmäßigkeiten 49,5 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen – Kilicdaroglu kam auf 45 Prozent, nachdem auch das linke "Bündnis für Arbeit und Freiheit" ihn unterstützt hatte.
Nach UN-Angaben gibt es nur rund vier Millionen Flüchtlinge im Land
Um aufzuholen, setzt Kilicdaroglu nun aber auf die Unterstützung einer ultrarechten Kleinpartei. Die Zafer Partisi (Siegespartei) von Ümit Özdag tritt entschieden antikurdisch und migrationsfeindlich auf – bei der Wahl am 14. Mai kam sie auf rund zwei Prozent.
Mit Özdag hat sich Kilicdaroglu nun verbündet – und laut einem gemeinsamen Protokoll am Mittwoch auf die Abschiebung "aller Flüchtlinge und Illegalen" innerhalb eines Jahres geeinigt. Am Donnertag twitterte Özdag, "Versprochen! 13 Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber werden in ihre Heimat gehen."
Nach Angaben der Vereinten Nationen leben in der Türkei allerdings nur rund vier Millionen Geflüchtete, die überwiegend aus Syrien stammen. In der Community wird nun mit zunehmender Sorge diskutiert, ob Özdag auch Binnenvertriebene aus den kurdischen Gebieten der Türkei aus loswerden will – und wenn ja, wo sie seiner Meinung nach hin sollen.
Linke Parteien trotz allem gegen Wahlboykott
In den Reihen der Grünen Linkspartei (YSP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP) stand kurzzeitig sogar die Frage im Raum, ob sie unter diesen Umständen nicht besser zum Boykott der Stichwahl aufrufen sollten, statt Kilicdaroglu weiter zu unterstützen. Die Vorstände beider Parteien entschieden sich aber dagegen, um Erdogans "Ein-Mann-Regime" zu beenden. Kilicdaroglus "prinzipienlose Zugeständnisse" hatten sie allerdings scharf kritisiert.
Mit der gemeinamen Absichtserklärung, "alle Flüchtlinge und Illegalen" aus dem Land zu werfen, kündigt auch Kilicdaroglu für den Fall seiner Wahl faktisch an, den 2016 abgeschlossenen Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen. Das Abkommen war auf Druck der damaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zustande gekommen – Erdogan hatte damit faktisch die Rolle eines Grenzwächters der EU übernommen. Die Türkei hatte Zahlungen in Milliardenhöhe dafür kassiert, dass sie sich verpflichtete, die Weiterreise auf Migrationsrouten nach Europa zu verhindern und Geflüchtete aus Syrien im eigenen Land zu versorgen.
Das hätte sich dann wohl endgültig erledigt, sollte Kilicdaroglu gewählt werden und die Ankündigung umsetzen.
"Es muss noch einmal betont werden, dass es falsch und unmenschlich ist, Migrantinnen und Migranten oder geflüchtete Menschen für politische Interessen zu instrumentalisieren", erklärte dazu die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan, deren Partei sich eher zähneknirschend entschieden hat, Erdogans Herausforderer weiter zu unterstützen.
"Nicht diese Menschen sind für die aktuelle Situation verantwortlich, sondern die Regierung, die auf einer Kriegspolitik besteht und Flucht und Migration für wirtschaftliche und politische Zwecke instrumentalisiert", so Buldan. Das Problem könne nur gelöst werden, "indem ein starker Friedenskampf gegen die Kriegspolitik geführt wird".