Abschied von der autogerechten Stadt

Reinhard Huschke
Blick auf ein einzelnes Haus, das von Straßen umgeben ist.

(Bild: Reinhard Huschke)

Langwierig und mühselig aber notwendig ist der Rückbau der auto-dominierten Stadt zu einer menschengerechten Umwelt. Aber wie sehen die Hindernisse eigentlich aus?

Berlin-Schöneberg, Hohenstaufenstraße: Ein fünfstöckiges Wohngebäude aus der Gründerzeit steht einsam mitten im Straßenraum. Zwei der vier Fahrspuren führen im Bogen um das Haus herum.

Wie kam es zu diesem Kuriosum? Im Bebauungsplan von 1963 war eine Aufweitung der Straße auf die nahezu doppelte Breite festgelegt worden, um einen leistungsfähigen Zubringer zur damals geplanten Stadtautobahn "Westtangente" zu schaffen. Dafür wurden in zwei Abschnitten sämtliche Häuser auf der nördlichen Straßenseite abgerissen. Ein Hausbesitzer wehrte sich erfolgreich vor Gericht – deshalb blieb die Nr. 22 stehen.

Ähnlich zerrissene Stadtbilder findet man überall in Berlin und in vielen anderen deutschen Städten. Sie sind das Erbe einer Epoche, in der Stadtplanung vor allem als Verkehrsplanung verstanden wurde. Ziel war eine "autogerechte" Stadt mit breiten, leistungsfähigen Verkehrstrassen. Für die (vermeintlich) notwendigen Straßendurchbrüche und -verbreiterungen wurden auch Altbauviertel geschleift, die im Krieg unversehrt geblieben waren.

Zerrissene Stadtbilder

Der Begriff der autogerechten Stadt geht auf das gleichnamige Buch des Stadtplaners Hans Bernhard Reichow aus dem Jahr 1959 zurück. Darin propagierte er die Abkehr vom "versteinerten Brei" der überkommenen Stadt:

Das 20. Jahrhundert fordert, die Stadt neu zu ordnen und stark zu gliedern. […] Letzten Endes werden die Struktur der autogerechten Stadt und ihre bewußte Wandlung zur Stadtlandschaft die wesentlichen Beiträge unseres Jahrhunderts zur Geschichte des Städtebaues sein.

Bernhard Reichow

Die chaotische Melange der alten Stadt sollte aufgelöst, die Funktionen Arbeit, Wohnen und Freizeit räumlich separiert und durch leistungsfähige Verkehrsachsen verbunden werden. Reichows Vorstellung:

In der City wohnen nur noch Hausmeister oder sonst dringend erforderliches Personal. Wer kann, wählt die Ruhe der Wohnoasen im Grünen. Und wer durch Ausbombung oder Evakuierung in die ruhigen Wohnvororte verschlagen ist, drängt nicht mehr zur versteinerten Stadt zurück.

Inspiriert von den städtebaulichen Visionen Le Corbusiers aus den 1920er-Jahren zeigen zeitgenössische Illustrationen das Idealbild der neuen "Stadtlandschaften" in Form von Hochhäusern, die um vielspurige Verkehrstrassen herum weiträumig verteilt sind.

Wer ein Ziel hat, soll im Auto sitzen

Von diesem Gedankengut waren auch die Fachleute in den Planungsämtern beseelt. Fußgänger seien "unverbesserliche Neandertaler", hieß es – ganz ohne Ironie – in einer amtlichen Broschüre der Berliner Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen von 1957.

Wer ein Ziel hat, soll im Auto sitzen und wer keins hat, ist ein Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächsten Park.

Berliner Senatsverwaltung

Die "wesentlichen Beiträge unseres Jahrhunderts" von Reichows Planergeneration haben sich längst als städtebaulicher Jahrhundertirrtum erwiesen. Gewachsene Stadtviertel, die den Furor der damaligen Verkehrsplaner überlebt haben, sind heute wieder beliebte Wohnorte. Die durch die Funktionstrennung bewirkte Zersiedelung wird allgemein als Problem gesehen und die Rückkehr zur kompakten, funktionsgemischten Stadt angestrebt.

Auch Fachleute schütteln heute den Kopf über die einst im Brustton der Überzeugung formulierten Visionen und die daraus resultierenden, im Rückblick teils monströs anmutenden Verkehrsprojekte, die glücklicherweise nur zum Teil realisiert wurden. Vieles damals Entstandene wurde mittlerweile wieder abgerissen oder steht zum "Rückbau" an.