Abzapft is! oder Kein Menschenrecht auf Party

Symboldbild: Jade Masri /Unsplash

Vom Kann zum Soll: Strengere Corona-Regeln für ganz Bayern; Kontaktverbote und Verschärfung der Maskenpflicht in München; Söder bemängelt Tendenz zum "Rumgekrittel"

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Das bayerische Kabinett hat sich heute mit dem Vize-Präsidenten des Robert-Koch-Instituts über weitere Einschränkungen und Verschärfungen in sogenannten Corona-Hotspots beraten. Die von Ministerpräsident Söder gestern angedrohte Verordnung ist entsprechend vom Kabinett angepasst worden. Damit wurde die "Kann-Regelung" zu einer "Soll-Regelung" verschärft. Zum Beispiel soll bei einer Überschreitung von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern in einer Region binnen sieben Tagen eine Maskenpflicht an öffentlichen Plätzen greifen.

Ministerpräsident Söder, Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) informierten dazu heute auf eine Pressekonferenz. "Wir wollen nicht einsperren, sondern lenken", so Söder. "Die Zahl derer, die sich über Leichtsinn infizieren, wächst". München beispielsweise stehe an der Schwelle zu einem diffusen Geschehen. Corona werde zunehmend ein Großstadtproblem. Er bemängelte in der Gesellschaft insgesamt eine Tendenz zum "Rumgekrittel an allem Möglichen".

In München dürfen sich in Gastronomie und im öffentlichen sowie privaten Raum ab morgen nur noch fünf Menschen privat treffen. Die maximalen Teilnehmerzahlen für private Feiern werden stark reduziert. Alkoholverbote werden verschärft, Sperrstunden verkürzt. An stark frequentierten öffentlichen Orten soll Maskenpflicht herrschen.

"Corona wird zunehmend ein Großstadtproblem" (Markus Söder)

"Wir haben lange überlegt", so Oberbürgermeister Reiter "ob wir für den gesamten Stadtbereich eine Maskenpflicht anordnen sollen und haben uns entschlossen, das noch nicht zu tun, sondern derzeit jetzt erstmal punktuell vorzugehen." Grund zur Freude eigentlich: Wenn wir brav sind, wird es vorerst noch keine Maskenpflicht für Kinder in der Spielstraße geben. Bewegen wir uns wieder weg vom Dürfen und Können zum Sollen, Müssen und Strafen? Werden aus Geboten wieder Verbote, aus ganz normalen Feiern illegale Corona-Partys?

Der Münchner Merkur mahnt heute, das Konzept von Eigenverantwortung nicht zu verwechseln mit "einem Menschenrecht auf Party". Wie die Faust aufs Auge passt es da, dass die Verschärfung der Regeln punktgenau nach dem Wochenende erfolgt, an dem Münchener Wirte zur Wirtshaus Wiesn aufgerufen hatten. Das Wetter war schön, auf den Straßen waren gutgelaunte Menschen zu sehen. Zu viele, zu fröhliche Menschen:

"An vielen Plätzen wie etwa dem Viktualienmarkt standen Menschen dicht gedrängt beisammen und tranken, viele von ihnen in Tracht", beobachtete die Süddeutsche Zeitung, getreu ihrem neuen Werbeslogan "Halten Sie Abstand, wir bleiben für Sie dran". Söder klagte über "verstörende Bilder."

Dass die 7-Tage-Inzidenz in der Landeshauptstadt in den letzten Tagen gestiegen ist, dafür kann man die Feiernden vom Wochenende freilich nicht verantwortlich machen. Doch sie sind der Politik und sicher auch vielen Bürgern ein Dorn im Auge. Verständlich, denn private Feiern gelten als Ausbreitungsrisiko. Doch ist es verhältnismäßig, jetzt wieder so strenge Kontaktverbote zu erlassen?

"Mit Schrot in den Nebel schießen"

Bei der Münchener Abendzeitung regt sich heute Kritik an den neuen Maßnahmen:

"Man darf mit vier Spezln zur Wirtshauswiesn, einen weiteren muss die Runde abweisen. Die neuen Beschränkungen offenbaren zugleich die Willkür und die Ratlosigkeit derer, die sie erlassen. Als würde man mit Schrot in den Nebel schießen - in der Hoffnung, irgendwas werde man treffen. Das Fatale an den Münchner Maßnahmen: Sie greifen erneut ins Private der Menschen ein und rufen - wie tausendfach während des Lockdowns passiert - ach so besorgte Nachbarn auf den Plan, die nach der Polizei rufen, wenn sie nebenan "Corona-Sünder" vermuten."

Dass das aktuelle Infektionsgeschehen in Deutschland alles andere als dramatisch ist, lässt sich u.a. einem Beitrag im Ressort Wissen der Süddeutschen Zeitung vom 19. September entnehmen. Der Autor sieht die "Zeit für Zuversicht" gekommen:

Das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin ergab für Ende dieser Woche, dass fast 9000 Intensivbetten in Deutschland derzeit frei sind; gerade mal 246 Covid-19-Patienten werden im Moment intensivmedizinisch betreut. "Ich kann mich kaum noch an einen Covid-19-Patienten auf der Intensivstation erinnern, das scheint Monate her zu sein", sagt ein erfahrener Intensivmediziner. "Auch auf unserer internistischen Normalstation ist in den vergangenen Wochen nur ein Fall aufgetreten; das war aber ein Zufallsbefund ohne Lungensymptome."

SZ

Apropos 7-Tage-Inzidenz: Als am Freitag in ganz Deutschland die News durchgepeitscht wurde, dass München mit einer Zahl von 50,7 den Grenzwert "gerissen" habe, war der Wert in Wahrheit noch darunter. Denn das Robert-Koch Institut verwendet für die Berechnung der Inzidenzen die Daten der statistischen Landesämter vom 31.12.2018. Seitdem hat die Stadt aber fast 100.000 Einwohner mehr, was die Berechnung des Wertes nicht unbeträchtlich verfälscht. Ein entsprechender Hinweis dazu findet sich auch auf der Webseite der Stadt München. Demnächst sollen aktuellere Einwohnerzahlen verwendet werden.

Spiegel Online widmete Münchens maßlosen Werten und den "wilden Wiesn-Ersatzfeiern" gleich mehrere Beiträge. Die Verbindung von Corona und Wiesn sorgt wahrscheinlich für gute Zugriffszahlen. Dass dabei in einem der Artikel von "Neuerkrankungen" die Rede ist statt von Neuinfektionen - ist das nur ungenau oder bewusst gesetzt, um das Drama noch ein wenig zu erhöhen? Es dürfte sich doch in der Redaktion herumgesprochen haben, dass die aktuell verwendeten PCR-Tests noch keine Aussage darüber ermöglichen, ob jemand erkrankt und ansteckend ist.

Doch wer will schon kleinlich sein, wenn es um den "größten Hotspot der Bundesrepublik" geht. OB Reiter kann einem wirklich leidtun:

Ich möchte dringend und baldmöglichst nicht mehr der größte Hotspot der Bundesrepublik sein, was die Corona-Zahlen betrifft.

Dieter Reiter

Eine etwas ungeschickte Formulierung, die nahelegt, dass Reiter gern einen anderen deutschen OB als Hotspot sehen würde - Michael Müller vielleicht oder Peter Tschentscher?