Ärger an der EU-Peripherie: Die Gasvorkommen im Mittelmeer

Die Türkei entwickelt sich immer deutlicher zu einem Stressfaktor an der Peripherie der Europäischen Union. Aber die Erdogan-Regierung ist nicht der alleinige Unruhestifter. Teil 1

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Vor fast genau einem Jahr, am 2. Januar 2020, unterzeichneten die beiden EU-Staaten Griechenland und Zypern einen Vertrag über die östliche Mittelmeerpipeline, genannt EastMed, mit der israelischen Regierung. In Athen erklärte Benjamin Netanjahu, das gemeinsame Vorhaben sei "wichtig für die Stabilität der Region".

Der feierliche Akt bildete den offiziellen Startschuss für ein seit langem geplantes Projekt. Innerhalb der letzten zehn Jahre waren im östlichen Mittelmeer zahlreiche Erdgasvorkommen entdeckt worden. Darunter befinden sich auch größere Lagestätten wie das israelische Leviathan-Gasfeld und das zyprische Aphrodite-Feld, die Energiespezialisten als echte "Gamechanger" für die Energiepolitik im Mittelmeerraum einordnen.

Die Erschließung dieser unterseeischen Gasvorkommen sorgte zunächst für politische, mittlerweile aber auch militärische Eskalation unmittelbar an der Peripherie der Europäischen Union. Neben dem Brexit und der zunehmend konfrontativen Politik der Visegrád-Gruppe entwickelte sich im Mittelmeer über die vergangenen zehn Jahre ein dritter Konfliktherd, der das Format hat, die Entwicklung der Europäischen Union zukünftig maßgeblich nachteilig zu beeinflussen.

Die südlichen Mittelmeeranrainer Griechenland, Zypern und eingeschränkt Italien befinden sich, lautstark unterstützt von der französischen Regierung, mittlerweile in einem maritimen Konflikt mit dem größten südlichen Nachbarn der EU, der Türkei. Als größter südlicher Nachbar mit einem hochgerüsteten und erfahrenen Militär ist der 83-Millionen-Einwohnerstaat ein wirklich ernst zu nehmender Faktor.

Der Streit um diese mediterranen fossilen Ressourcen, deren tatsächlicher Wert äußerst fraglich ist, hat mittlerweile zu einer echten Aufrüstungsspirale in der Region geführt. Mitte Dezember beschloss der Gipfel der EU-Regierungschefs erweiterte Sanktionen gegen türkische Firmen, wobei kurioserweise kein EU-Waffenembargo gegen den NATO-Partner verhängt wurde.

Angesichts dieser im Jahr 2020 weiter eskalierten Konflikte lohnt sich ein Rückblick auf die politischen Konsequenzen, welche die neu entdeckten Ressourcen in der letzten Dekade für die Region erbracht haben. Dabei müssen die regionalen Auswirkungen auf die östlichen Mittelmeeranrainer und die Pipeline in die Europäische Union getrennt betrachtet werden, wie eine Übersicht über die wissenschaftliche Debatte schnell deutlich macht.

Denn besonders auffällig an der Diskussion vor allem um das exklusive europäisch-israelische Pipelineprojekt ist, dass es von deutschen und europäischen Experten nahezu durchgehend kritisch gesehen wird. Andererseits engagierten sich besonders Vertreter der US-Außenpolitik unter den Regierungen von Barack Obama und Donald Trump energisch für die Trasse. Auch in Brüssel unterstützen für Energiefragen zuständige Politiker EastMed, sowohl politisch als auch finanziell aus Mitteln der Steuerzahler.

Dies wirkt umso anachronistischer, weil etwa die Regierung von Emmanuel Macron als ein wesentlicher Unterstützter des Projektes bereits im Jahr 2017 neue Offshore-Projekte in französischen Gewässern gesetzlich verboten hat, nicht nur im Mittelmeer sondern auch im Atlantik sowie in den aus der Kolonialzeit stammenden Überseegebieten. Die EU-Klimaziele, auf die die französische Regierung dabei verwies, haben selbstverständlich auch Griechenland und Zypern unterzeichnet.

Offshore-Projekte sind besonders gefährlich und umweltschädlich, weil - Stichwort Deepwater Horizon-Katastrophe - die Bohrungen, Leitung sowie Öl- oder Gasaustritte im tiefen Meer noch deutlich schlechter zu kontrollieren sind als Onshore. Zudem ist die Erschließung, Förderung und Ausleitung natürlich auch sehr viel kostspieliger.

EastMed: Kleine Pipeline, große Probleme

Der breiteste Einwand gegen EastMed betrifft genau die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit des Projektes. Die Energieökonomin Claudia Kemfert wies etwa darauf hin, dass EastMed wegen ihrer enormen Ausmaße ein "wenig aussichtsreiches" Projekt ist. Sie soll mit mehr als 2000 Kilometern die weltweit längste Unterwasserpipeline werden, die zudem in enormen Tiefen von bis zu 3000 Meter verlegt werden muss. Es sei ein extrem teures Projekt, "um nicht zu sagen unrealistisch", aufgrund der hohen Kosten und der enormen technischen Herausforderungen, so die Wissenschaftlerin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Gleichzeitig liegt die geplante Durchleitungskapazität bei nur 9,5 Milliarden Kubikmeter im Jahr, eine Menge, auf die innerhalb der EU schon jetzt niemand angewiesen ist. "Wenn man die Klimaziele ernst nimmt und die Emissionen in den kommenden Jahrzehnten drastisch sinken, muss man sich von allen fossilen Energien, auch von Gas, verabschieden", betont Kemfert.

Sie weist darauf hin, dass der Gasbedarf in Europa ohnehin eher abnehmen wird und es schon jetzt ausreichend Gas auf den Märkten gebe. "Jede Investition in fossile Infrastruktur wird eine verlorene Investition sein", warnt die Energieanalystin, "dazu gehören auch Gaspipelines und Flüssiggasterminals".

Diesen zentralen Einwand teilt auch Stefan Wolfrum von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Der Bau der Pipeline würde vier bis fünf Jahre dauern und circa 7 Milliarden Euro kosten, wovon die EU-Steuerzahler die Hälfte der Kosten tragen müssten. Der wirtschaftliche Nutzen des Projekts sei jedoch "zweifelhaft", die potentielle Liefermenge im Verhältnis zum europäischen Gesamtbedarf unbedeutend.

"Ihr Ziel der Diversifizierung von Gasimporten aus Drittländern könnte die EU auch ohne Pipelinebau realisieren", argumentiert der SWP-Wissenschaftler. Zwar halte die Machbarkeitsstudie den Bau für realistisch, so Stefan Wolfrum, aber nicht nur die hohen Kosten und die Sicherheitslage im östlichen Mittelmeerraum sprechen gegen das Projekt.

Bereits diese Machbarkeitsstudie hat die EU mit 2 Millionen Euro aus dem klimapolitisch umstrittenen Programm "Connecting Europe Facility" finanziert. Nach Berechnungen der griechischen Klimaaktivistin Eleni Diamantopoulou hat die EU allein für die erste Vorphase 36,5 Millionen Euro genehmigt, bisher wurden 15,8 Millionen Euro an die Betreiber ausgezahlt.

Stefan Wolfrum von der SWP-Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten und Afrika sieht zudem politische Problem für die Politik im östlichen Mittelmeer. Ein exklusiver israelischer und zyprischer Export in die EU würde die dringend notwendige regionale Kooperation im Energiebereich unterminieren:

Wirtschaftliche und politische Potentiale eines gemeinsamen Gasmarktes im östlichen Mittelmeerraum blieben ungenutzt", so Wolfrum. Dem ungewissen wirtschaftlichen Nutzen des Pipelinebaus stünde insofern ein "erheblicher politische Nutzen regionaler Kooperation gegenüber.

Er empfiehlt, die EU solle "Israels widersprüchlicher Gasexportpolitik" eine klare Position entgegensetzen. Die regionale Energiekooperation im östlichen Mittelmeer müsse Vorrang haben vor einem teuren transkontinentalen Pipelineprojekt. Die EU sollte das Pipelineprojekt nicht weiter fördern und es im kommenden Jahr von der Liste der Projekte von allgemeinem Interesse (PCI) streichen, welche eine Voraussetzung für eine weitere finanzielle Unterstützung ist.

Mit dieser Kritik steht der SWP-Wissenschaftler keineswegs alleine. Bereits vor mehreren Jahren benannte Tareq Baconi, Wissenschaftler am European Council on Foreign Relations (ECFR), diese beiden Optionen als Alternativen, exklusiver israelischer Gasexport in die EU oder regionale Energiekooperation mit Ägypten, Jordanien und anderen Ländern.

Auch wenn sich Baconi damals hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit von EastMed noch nicht festlegte, benannte er schon bestehende Zweifel. Die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer, so Tareq Baconi, eigne sich besonders, um einen "wirtschaftlichen Frieden" zwischen den notorisch verfeindeten Staaten der Region zu erreichen.

Eine engere wirtschaftliche Integration am Beispiel der Erdgasvorkommen könnte es ermöglichen, Vertrauen zu bilden und verschiedene Parteien zur Kooperation zu nötigen, die historisch betrachtet viele politische Meinungsverschiedenheiten haben. Eine regionale Energiekooperation könnte tatsächlich zu mehr Stabilität führen, so die Hoffnung.

Letztlich, empfahl Tareq Baconi bereits im Jahr 2017, sollte die EU die Angelegenheit nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihres eigenen Energiebedarfs betrachten. Die EU habe ein "breiteres sicherheitspolitisches Interesse an längerfristiger Stabilität" in der Region. Insofern empfahl der ECFR-Forscher der EU, sich mit Blick auf das östliche Mittelmeer besonders für vier Kernbereiche einzusetzen, die sich bereits als Konfliktlinien abzeichneten.

Die EU müsse im Zusammenhang mit den Gasvorkommen die Palästinenser darin unterstützen, Zugang zu ihren einheimischen natürlichen Ressourcen, sprich: ihrem Anteil an den Gasvorkommen zu erhalten. Sie solle sich dafür einsetzen, dass die diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Zypern und der Türkei wieder aufgenommen werden. Sie sollte helfen, die Seestreitigkeiten zwischen Libanon und Israel zu schlichten sowie Ägypten motivieren, seine "Reformen fortzuführen".