Äthiopien: Der Hungertod droht

Humanitäre Hilfe der USA in Tigray. Bild: USAID, gemeinfrei

Zentralregierung bereitet neue Offensive vor. Humanitäre Lage in Tigray verschlechtert sich dramatisch

Seit einem knappen Jahr tobt am Horn von Afrika - in Äthiopien - ein Bürgerkrieg. Was als law enforcement operation, also als Operation zur Durchsetzung von Recht und Gesetz, durch die äthiopische Zentralregierung unter Premierminister Abiy Ahmed Ali begonnen hatte, zieht zunehmend die gesamte Region in einen Strudel der Destabilisierung.

Während Abiy Ahmed Ali Anfang Oktober 2021 die Bildung seiner neuen Regierung feiert, leidet das nördlichste Bundesland Äthiopiens, Tigray, unter einer umfassenden Blockade. Mittlerweile sind im Norden Äthiopiens Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.

Ausweisung von humanitären UN-Organisationen – trotz Hungerkrise

Kurz vor den Feierlichkeiten zur Bildung seiner neuen Regierung in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba am 04.10.2021 hat Premierminister Abiy Ahmed Ali für internationales Aufsehen gesorgt.

Seitens der Regierung wurden sieben Verantwortliche von humanitären UN-Organisationen – betroffen waren unter anderem das Kinderhilfswerk Unicef und UN-Office of Humanitarian Affairs und das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Unocha – zu unerwünschten Personen erklärt und des Landes verwiesen. Sie hatten 72 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen.

Dieser Vorgang ist nicht nur außergewöhnlich, sondern auch juristisch umstritten. In einer ersten Reaktion hat der UN-Generalsekretär António Guterres den Standpunkt vertreten, dass Äthiopien zwar das Recht hat, Vertreter eines anderen Staates des Landes zu verweisen, nicht jedoch Vertreter der UN.

Die Regierung in Addis Abeba begründet diese drastische Maßnahme mit einer angeblichen Einmischung der UN-Vertreter in die inneren Angelegenheiten Äthiopiens.

Offensichtlich war der äthiopischen Regierung ein Dorn im Auge, dass UN-Vertreter wiederholt und offen die Zentralregierung dafür kritisiert hatten, dass seitens Abiy Ahmed Ali jegliche humanitäre Hilfe für vom Hungertod bedrohte Menschen in Tigray blockiert und behindert wurde.

Nach wie vor ist das Bundesland Tigray durch die äthiopische und die eritreische Armee sowie amharische Milizen komplett abgeriegelt. Der Westen Tigrays, über den theoretisch vom Sudan aus ein humanitärer Korridor geschaffen werden könnte, ist von eritreischen und amharischen Truppen besetzt.

Somit kann jede Versorgung mit lebenswichtigen Gütern durch die Zentralregierung kontrolliert und nach Belieben unterbunden werden. Der Hungertod von Millionen Menschen wird nicht nur in Kauf genommen, er scheint beabsichtigt. "Niemand wird uns retten, die Welt hat uns vergessen", es ist diese Erfahrung, die die Menschen in Tigray machen und die sie zur Unterstützung der Tigray Defence Forces (TDF) motiviert.

Nach Einschätzung der UN müssten täglich mindestens 100 Trucks mit Lebensmitteln und Medikamenten Tigray erreichen. Bis heute erreichen nicht einmal zehn Prozent davon die betroffene Region. Entweder werden die Transporte durch die Regierung gar nicht genehmigt, oder sie werden durch regionale Milizen gestoppt, bevor sie Tigray erreichen. Hinzu kommt, dass die leeren LKWs teilweise den Rückweg nicht schaffen, da die Regierung auch eine umfassende Blockade für Treibstoff verhängt hat.

UN-Vertreter kamen ihrer Pflicht nach und kritisierten Blockade

In Äthiopien aktive UN-Organisationen haben auf die humanitäre Lage hingewiesen. Sie haben – wie es ihre Pflicht ist – auch die äthiopische Regierung für die Behinderungen und die Blockadepolitik kritisiert.

Daraus wird seitens Abiy Ahmed Ali eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten konstruiert, und die Verantwortlichen der entsprechenden UN-Büros werden zu unerwünschten Personen erklärt.

Die Ausweisung der UN-Vertreter passt zu einer Entwicklung, in der deutlich wird, dass das Regime in Addis Abeba zunehmend dünnhäutig und restriktiv auf jede Art von Kritik - sei es von innen oder von außen - reagiert.

So passt es ins Bild, dass Äthiopien in 30 Ländern handstreichartig seine Botschaften geschlossen hat und sich international gerne mit anderen autoritären Diktatoren verbündet. So gehört der türkische Präsident Erdogan mittlerweile zu den wichtigen Verbündeten Abiy Ahmed Alis und liefert Waffen (u.a. Drohnen).

Vorbereitung für eine neue Offensive von Abiy Ahmed Ali und seinen Verbündeten gegen Tigray und die TPLF (Tigray Peoples Liberation Front) Beobachter glauben, dass die Ausweisung zum jetzigen Zeitpunkt auch im Zusammenhang mit einer angekündigten neuen Offensive gegen Tigray und die TPLF steht. Kritiker und unabhängige Beobachter stören zunehmend, zumal auch in Äthiopien die Repression immer groteskere und brutalere Züge annimmt.

Innenpolitisch werden tigraystämmige Menschen mehr und mehr ethnisch verfolgt und grundlos verhaftet oder deportiert. Jüngstes Beispiel ist Abraha Desta, einer der wenigen Politiker aus Tigray, der die Zentralregierung bei ihrem Einmarsch im November 2020 unterstützt hatte. Abraha Desta war sogar Mitglied der in der Bevölkerung isolierten Interimsregierung, die Abiy nach der Eroberung von Tigrays Hauptstadt Mekelle eingesetzt hatte. Desta hatte einen Brief geschrieben, in dem er - vorsichtige - Kritik an der Regierung äußerte. Das reichte für eine Verhaftung.

Immer offener verfällt Abiy Ahmed Ali in eine ethnische Hasspropaganda. Tigray und die TPLF werden als "Hyänen", "Krebs" oder "Unkraut" bezeichnet, das es auszurotten gilt. Willkürliche Verhaftungen im ganzen Land sind an der Tagesordnung. Es reicht oftmals, als Tigrayer identifiziert zu werden, um verhaftet zu werden. Kleine und große Unternehmen von Tigrayern außerhalb von Tigray werden zwangsweise geschlossen und enteignet.

In Äthiopien geht die Regenzeit zu Ende, und die Zentralregierung bereitet eine neue große Offensive gegen das abtrünnige Bundesland Tigray vor. In ganz Äthiopien werden neue Rekruten ausgehoben und einer Art Blitzausbildung unterzogen. Offensichtlich versucht die Regierung – nach mehreren Niederlagen gegen die Tigray Defense Force – mit schierer Masse an Soldaten (Äthiopien hat 110 Millionen, das Bundesland Tigray lediglich sechs Millionen Einwohner) den Erfolg zu erzwingen. Drohnen aus der Türkei und dem Iran sollen dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Sollte es Abiy Ahmed Ali gelingen, erneut in Tigray einzumarschieren und das Land ganz oder teilweise zu besetzen, ist zu erwarten, dass sich die ohnehin katastrophale Lage der Zivilbevölkerung nochmals verschlechtert. Die Hasspropaganda der Regierung gegen Tigray würde sich bei einem Sieg in Racheakte und Gräueltaten ummünzen, die jene des ersten Einmarsches in den Schatten stellen könnten.

Die Zivilbevölkerung würde allein deswegen nicht verschont, weil sie sich geschlossen hinter die TPLF und TDF gestellt hat. Bei einem solchen Vorgehen kann man keine Zeugen und keine Störenfriede gebrauchen. Vor diesem Hintergrund ist die Ausweisung von humanitären UN-Organisationen auch zu verstehen.

Wahrscheinlicher als ein schneller Sieg der Zentralregierung ist allerdings, dass Äthiopien noch viele Jahre Bürgerkrieg bevorstehen.