Äthiopien: Kein Ende des Konflikts in Sicht

Abiy Ahmed Ali und Präsident Isaias Afwerki bei Unterzeichnung der Friedens- und Freundschaftserklärung zwischen Äthiopien und Eritrea im Juli 2018. Bild: Informationsministerium

Ministerpräsident Abiy Ahmed und der eritreische Autokrat Isaias Afewerki stehen wegen militärischer Zusammenarbeit und Vorwürfen von Kriegsverbrechen international unter Druck

Vergangene Woche demonstrierten erstmals Amharen gegen den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed Ali und gegen den amharischen Zweig seiner Prosperity Party. Dabei wurden Plakate mit dem Konterfei des Regierungschefs heruntergerissen, bei Demonstrationen in Gonder, Debre Birahan, Debre Tabor, Kobo, Kombolacha und Adet kam es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften. Geschürt werden die Proteste von amharischen Nationalisten, die der Regierung vorwerfen, nicht genug für den Schutz amharischer Zivilisten zu tun.

Damit zeigen sich nun auch die ersten Spaltungslinien innerhalb der Volksgruppe der Amharen, die als einzige bisher geschlossen hinter Abiy Ahmed Ali stand. Das Pulverfass Äthiopien brennt und droht vollends im Chaos zu versinken.

Ob die Regierung es schafft, die Situation unter Kontrolle zu bringen und wie lange ihre Unterstützung in Äthiopien noch anhält, vermag zurzeit niemand vorherzusagen. Im Moment scheint Ministerpräsident Abiy Ahmed die militärischen Anstrengungen gemeinsam mit Eritreas autokratischen Präsidenten Isaias Afewerki zu intensivieren, um eine Entscheidung zu erzwingen. Die Lage für die Zivilbevölkerung in Tigray und die Perspektive für das Horn von Afrika wird dadurch nicht besser.

Mittlerweile waren Beweise für die Präsenz eritreischer Truppen in Tigray und für Kriegsverbrechen derart erdrückend geworden, so dass Abiy Ahmed Ali nach Monaten des Leugnens gezwungen war, Eingeständnisse zu beiden Punkten zu machen.

Zusätzlich nimmt der internationale Druck durch weltweite Demonstrationen von Aktivisten, durch Nichtregierungsorganisationen und durch verschiedene Regierungen und Diplomaten zu.

Es sind vor allem vier Forderungen, die dabei im Vordergrund stehen:

  1. Unverzüglicher Abzug aller eritreischer Truppen aus Tigray
  2. Abzug der amharischen Milizen aus Tigray
  3. Ungehinderter Zugang für humanitäre Hilfe in ganz Tigray
  4. Unabhängige Untersuchung der Kriegsverbrechen

Abiy Ahmed Ali und Isaias Afewerki stellen ihre Argumentation auf die neue Lage ein. Wie reagieren die beiden autoritären Herrscher auf die Forderungen nach Abzug eritreischer und amharischer Milizen, nach humanitärem Zugang und nach Untersuchung der Kriegsverbrechen?

Abzug eritreischer Truppen

Abiy Ahmed Ali hatte noch zu Beginn des Einmarsches in Tigray getönt, dass die "law enforcement operation" nach wenigen Tagen vorüber sein würde. Drei Wochen nach Beginn des Krieges erklärte er den Sieg über die Tigray People's Liberation Front (TPLF). Mittlerweile muss er allerdings nicht nur zugeben, dass die Auseinandersetzung in einen langwierigen Guerillakampf übergeht, sondern es wird auch immer deutlicher, dass Abiy Ahmed Ali ohne die aktive Beteiligung eritreischer Truppen nicht in der Lage wäre, militärisch die Oberhand in Tigray zu behalten.

Der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali braucht seinen eritreischen Waffenbruder Isaias Afewerki. Andererseits ist er auch auf internationale Unterstützung in Form von Hilfsgeldern sowie auf Investitionen angewiesen. Er befindet sich also in einem Dilemma. Ziehen sich die eritreischen Verbündeten jetzt zurück, droht ihm eine militärische Niederlage. Bleiben die Eritreer in Tigray, verliert er möglicherweise internationale Unterstützung.

Seit kurzem wird von beiden Regierungsoberhäuptern zugegeben, dass eritreische Truppen an den Kämpfen in Tigray beteiligt sind. Gegenüber der eigenen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit wird nun von der Leugnung zur Rechtfertigung bzw. zur Relativierung übergegangen. So wird argumentiert, eritreische Verbände hätten erst dann angegriffen, nachdem am 14. November 2020 TPLF-Kräfte Raketen auf Eritrea geschossen haben.

Die Glaubwürdigkeit dieses Argumentes verliert an Kraft, wenn man weiß, dass eritreische Truppen bereits mindestens seit dem 09. November 2020 - also vor dem Raketenangriff - an den Kämpfen beteiligt waren, und zudem seit Beginn des Krieges von eritreischem Territorium aus Drohnen der Vereinten Arabischen Emirate Ziele in Tigray bombardiert haben.

Es wird auch behauptet, dass eritreische Truppen nur in einigen grenznahen Gebieten stationiert wären. Gleichzeitig gibt es unzählige Zeugenaussagen und mit Dokumenten erhärtete Beschuldigungen. So etwa, dass eritreische Soldaten in Adwa noch am 12. April 2021 Massaker begangen haben und an Kampfhandlungen in weiten Teilen Tigrays beteiligt sind. Mittlerweile gibt es sogar Gerüchte, dass Eritreer in Oromia zum Einsatz kommen

Nachdem Abiy Ahmed Ende März in Eritrea mit Diktator Isaias Afewerki zu Gesprächen zusammengetroffen war, verkündete dieser nun, dass Eritrea bereit sei, seine Armee abzuziehen.

Bis heute ist allerdings nicht festzustellen, dass ein Abzug auch nur begonnen hat. Im Gegenteil: Es wird berichtet, dass es massive Truppenverstärkungen gibt.

Gegenüber dem Druck von Regierungen und UN versucht Abiy Ahmed Ali eine andere Taktik. Er versucht, die weitere Anwesenheit eritreischer Kräfte zu tarnen bzw. zu legitimieren, indem er eritreische Soldaten mit äthiopischen Uniformen und äthiopischen Ausweispapieren ausstattet.

Ob Abiy Ahmed Ali sich mit diesen Täuschungsmanövern durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.

Es scheint nach deren Informationen sogar Überlegungen zu geben, beide Armeen miteinander zu verschmelzen. Auch Gerüchte über eine angestrebte Föderation beider Staaten werden lauter. Derartige Überlegungen scheinen nicht nur von Sachzwängen der aktuellen Situation getrieben zu sein, sondern sind möglicherweise von Anfang an Teil eines strategischen Masterplans. Es kann sein, so wird spekuliert, dass am Horn von Afrika eine Art Groß-Äthiopien angestrebt wird, welches das heutige Äthiopien, Eritrea, Djibouti, Somalia sowie den Südsudan umfassen könnte.

Abzug amharischer Milizen

Auch für einen Abzug amharischer Milizen gibt es keine Anzeichen. In den Reihen amharischer Nationalisten gibt es das Argument, dass weite Teile Tigrays eigentlich zu Amhara gehören würden. In den fraglichen Gebieten finden ethnische Säuberungen statt. Tigrayer werden durch amharische Milizen vertrieben oder sie werden umgebracht. Argumentiert wird gerne damit, dass diese Gebiete ja vor 1991 zu Amhara gehörten.

Allerdings ist dieses Argument wenig stichhaltig, denn bevor 1991 der amharische Diktator Mengistu durch die TPLF gestürzt wurde, dominierten die Amharen ganz Äthiopien. Wirft man einen Blick auf demografische Zahlen in West-Tigray wird deutlich, dass die Amharen in den fraglichen Gebieten auch vor 1991 nur eine kleine Minderheit darstellten.

Die Anwesenheit amharischer Milizen ist - anders als die Beteiligung Eritreas - militärisch eher von untergeordneter Bedeutung, zumal die amharischen Kräfte eher als militärisch schwach gelten. Andererseits sind die Amharen Abiy Ahmed Alis wesentliche und unverzichtbare Unterstützungsgruppe in Äthiopien, und zudem scheint eine Zerstörung und eine Aufteilung Tigrays auch langfristig von Bedeutung, um ein Wiedererstarken Tigrays auch für die Zukunft zu verhindern. Eine Abspaltung großer Teile Tigrays zugunsten von Amhara oder Eritrea kommt diesem Ziel entgegen.

Untersuchung von Kriegsverbrechen

Nachdem immer mehr Verbrechen und Grausamkeiten offenbar werden und sich nicht mehr leugnen lassen, versucht die Regierung Abiy Ahmed Ali auch auf diese Vorwürfe zu reagieren.

Zum einen wird – nach bewährtem Muster – versucht, Verbrechen der TPLF in die Schuhe zu schieben zum anderen werden die Berichte – etwa von Massenvergewaltigungen - als TPLF-Propaganda abgetan. Dies ist allerdings kaum noch aufrechtzuerhalten, da die Zahl der Zeugenaussagen, Video- und Bilddokumente sowie Berichte von unabhängiger Seite rapide zunehmen.

Um die äthiopische Regierungspropaganda vor allem im Ausland zu stärken, hat Abiy Ahmed Ali zusätzlich amerikanische Lobbyunternehmen angeheuert, die die Aufgabe haben, die Öffentlichkeit sowie amerikanische Regierungsstellen zu beeinflussen.

Nach langem Sträuben stimmt auch Abiy Ahmed Ali inzwischen einer Untersuchung über Menschenrechtsverletzungen und schlägt vor, die äthiopische Organisation Ethiopian Human Rights Commission (EHRC) einzubeziehen. Die EHRC ist allerdings alles andere als unabhängig, hängt an der Finanzierung der äthiopischen Regierung und seine Kommissare werden vom Parlament ernannt. Der Umgang der EHRC mit den Menschenrechtsverletzungen der letzten drei Jahre in verschiedenen Teilen Äthiopiens ist nicht gerade ermutigend.

Die naheliegende Möglichkeit, alle Kriegsverbrechen dem eritreischen Bündnispartner in die Schuhe zu schieben, wäre für Abiy Ahmed Ali ein zweischneidiges Schwert, da er die Eritreer in Tigray noch auf unbestimmte Zeit braucht. Legalisiert er deren Aufenthalt in Tigray, sieht er sich der Möglichkeit ausgesetzt, ebenfalls wegen Hochverrat, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt zu werden.

Zugang für humanitäre Hilfe in Tigray

Mittlerweile können zumindest teilweise Hilfslieferungen nach Tigray gelangen. Allerdings sind weiterhin weite Teile Tigrays von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Zudem gibt es Berichte, dass große Teile der Nahrungsmittel, anstatt bei den Bedürftigen zu landen, von äthiopischen oder eritreischen Soldaten beschlagnahmt werden.

Der Zugang ausländischer NGO in alle Gebiete Tigrays ist nicht nur wegen der immer noch schwierigen Sicherheitslage in weiten Teilen des Landes erschwert, sondern auch nicht unbedingt im Interesse der äthiopischen Regierung.

Zum einen gelangen auch durch ausländische NGO-Mitarbeiter Informationen über Kriegsverbrechen ans Tageslicht, und zum anderen ist es weiterhin Teil der Strategie, die Bevölkerung Tigrays zu demoralisieren und zu vernichten.

Die humanitäre Lage wird kritisch bleiben. So ist nicht nur bereits ein großer Teil der Ernte vernichtet, in der andauernden kriegerischen Auseinandersetzung kann er auch nicht ausgesät werden.

Wie geht es weiter?

Abiy Ahmed Ali spielt auf Zeit. Für ihn steht mehr auf dem Spiel als für Isaias Afewerki. Der eritreische Diktator kann sich, wenn es hart auf hart kommt, immer noch nach Eritrea zurückziehen und sich dort einigeln, wie er es die vergangenen 30 Jahre getan hat.

Für Abiy Ahmed Ali ist die Situation komplizierter, denn Äthiopien ist nicht - wie Eritrea - ökonomisch und finanziell weitgehend abgeschottet. Es ist ungleich abhängiger von ausländischer Finanzhilfe, intensiven internationalen Wirtschaftsbeziehungen und Investitionen. Eine Verelendungsstrategie auf ein niedriges soziales und ökonomisches Niveau - vergleichbar mit Eritrea - würde auch der Teil der äthiopischen Bevölkerung kaum mittragen, der Abiy Ahmed Ali bisher unterstützt und den er mit vollmundigen Zukunftsversprechen versucht, bei Laune zu halten.

Auch zwischen Oromo und Amharen nehmen die Konflikte zu. In bewaffneten Auseinandersetzungen außerhalb Tigrays in Oromo und Benishangul starben unter anderem amharische Zivilisten. Es ist nicht das erste Mal, dass - auch außerhalb von Tigray - bei Auseinandersetzungen entlang ethnischer Konfliktlinien Zivilisten ums Leben kommen oder vertrieben werden. In den letzten anderthalb Jahren haben derartige Konflikte stark zugenommen.