Afghanistan – Land der Geschlechter-Apartheit: Eindrücke aus Kabul

Teile von Kabul wirken zumindest aus der Ferne modern. Unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern drohen jedoch inquisitorische Maßnahmen. Foto: Weaveravel / CC-BY-SA-4.0

Nach zwei Jahren Taliban-Herrschaft ist Afghanistan gegenüber Frauen das repressivste Land der Welt. Nicht nur Bildung wird ihnen verwehrt. So weit gehen die Einschränkungen im Allltag.

Zwei Jahre nach der neuerlichen Machtergreifung der radikalen Taliban-Bewegung befindet sich Afghanistan in einer schweren Wirtschaftskrise. Zwei Drittel der 40 Millionen Afghanen sind auf externe humanitäre Hilfe angewiesen.

Die schwerste Last unter dem Regime tragen jedoch die Frauen, denen tatsächlich alle wesentlichen Rechte entzogen wurden: Auf Bildung, auf Arbeit und sogar auf Reisen. Wenn wir hier schreiben, Afghanistan sei heute "das repressivste Land der Welt im Bezug auf Frauenrechte" so ist das nicht unsere Meinung, sondern ein offiziellen Statement der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan selbst (UNAMA).

Eine der ersten Entscheidungen der Taliban nach Eroberung der Macht war die Auflösung des schon seit 20 Jahren bestehenden Frauenministeriums. Ersetzt wurde es durch ein spezielles Konzept der Taliban, ein Ministerium zur Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters.

Es handelt sich dabei um ein analoge Nachfolge einer Sittenpolizei, die bereits während der ersten Taliban-Herrschaft ins Kabul von 1996 bis 2001 existierte. Mit hohen Worten kümmert sich die Behörde "für die Bildung der Frauen und den Schutz ihrer Rechte", während es real Verbote und Beschränkungen für die Frauen im Land konzipiert und interpretiert.

Bildungsverbot und sinkender Schulbesuch bei Mädchen

Das unzweifelhaft schädlichste aller Verbote bleibt dabei das des Schulbesuchs der Mädchen nach der sechsten Klasse. Die Radikalen begründen es mit "wirtschaftlichen Problemen und der Notwendigkeit, ein angemessen islamisches Umfeld zu schaffen". Vorher war die Situation komplett anders - von 2001 bis 2021 ist laut UNO-Angaben der Schulbesuch der Mädchen von null Prozent auf mehr als 80 Prozent gestiegen. Nun, zwei Jahre später, erhalten wieder 80 Prozent der Mädchen im schulpflichtigen Alter keinen Unterricht.

Darüber hinaus verhängten die Taliban ein Hochschulverbot für Frauen. So konnten junge Frauen, die ihr Studium sogar schon abgeschlossen hatten, keine Diplome erhalten. Nicht einmal das Betreten der Universitätsgebäude ist ihnen noch erlaubt.

"Fünf Jahre lang habe ich studiert, um Ärztin zu werden. Aber die Taliban haben mich einfach aus der Uni geworfen. Dann bekam ich einen Nervenzusammenbruch", erzählt Fausia, ehemals Studentin an der Uni Kabul, gegenüber Telepolis.

Die Härte der Beschränkungen löst selbst bei Verbündeten der Taliban in der muslimischen Welt Empörung aus. So bezeichnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die afghanische Entscheidung, die Bildung der Frauen zu verbieten, als "unmenschlich und antiislamisch". Selbst innerhalb der Taliban gibt es Auseinandersetzungen zu diesem Thema.

Im Exil in Pakistan oder Katar unterrichteten einige Taliban-Führer selbst ihre Töchter. Doch nun, während der Herrschaft im eigenen Land bestimmt der radikale Anführer Hibatullah Achundsada aus der südafghanischen Stadt Kandahar den Kurs. Er gilt als Hardliner, der seinen eigenen Sohn als Selbstmordattentäter rekrutierte.

Der einzige Ausweg für bildungswillige Mädchen und Frauen sind Schulungen im Untergrund. Es gibt sie an geheimen Orten oder sie werden online organisiert. All das ist jedoch angesichts des Kurses der Herrschenden äußerst riskant für alle Beteiligten.

Frauen verschwinden aus der Arbeitswelt

Nicht nur aus dem Bildungssystem, auch aus dem übrigen Öffentlichen Dienst wurden afghanische Frauen von den Taliban vollständig ausgeschlossen. Nach Angaben der internationalen Arbeitsorganisation ist die Berufstätigkeit von Frauen in den letzten beiden Jahren um ein Viertel gesunken. Auch die Arbeit von Frauen für Nichtregierungsorganisationen wurden von den Taliban im Dezember 2022 verboten, nichtkonformen NGOs wurde mit dem Entzug der Lizenz gedroht. Im April 2023 folgte sogar ein Verbot der Arbeit von Frauen in UN-Strukturen im Land.

Einen weiteren Schlag versetzten die Taliban den Frauen mit dem Verbot von Schönheitssalons Anfang Juli. Diese Maßnahme machte zehntausende Frauen im ganzen Land arbeitslos. Erlaubt ist die Beschäftigung von Frauen nur noch im Gesundheitswesen, aber auch dort gibt es viel repressive Kontrollen der Taliban. Stark unter Druck sind auch die afghanischen Journalistinnen.

Mehr als 80 Prozent von ihnen mussten seit 2021 ihre Stelle aufgeben, mehr als zwei Drittel haben komplett den Beruf gewechselt, schreibt Reporter ohne Grenzen. Geschätzt gab es noch vor zwei Jahren etwa 12.000 Journalistinnen im Land. Afghanistan ist im Index der Pressefreiheit in den zwei Jahren Taliban-Herrschaft von Platz 122 auf Platz 152 zurück gefallen.

"Die meisten Frauen und Mädchen in Afghanistan sind gezwungen, zu Hause zu bleiben, ohne die Möglichkeit zu haben, einen Job zu finden oder ausgebildet zu werden. Viele von ihnen kämpfen mit wirtschaftlichen und auch mit psychischen Problemen" meint die frühere afghanische Journalistin Marjam gegenüber Telepolis. Nach Ansicht des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen kommt es wegen der aussichtslosen Lage in Afghanistan täglich zu Suiziden.

Reiseverbot ohne männliche Verwandte

Zu allen möglichen weiteren Einschränkungen hinzu tritt für die Frauen die Notwendigkeit der Beachtung einer strengen Kleiderordnung, inklusive einer Vollverschleierung des Gesichtes in der Öffentlichkeit. Ohne Begleitung eines männlichen Verwandten dürfen Frauen nicht weiter als 75 Kilometer verreisen.

Der Besuch von Fitnessstudios, Parks und Unterhaltungseinrichtungen ist ihnen verboten. "Die Brutalität der Taliban gegenüber Frauen hat nichts mit dem Islam zu tun. Im Islam gibt es kein Bildungsverbot und nicht einmal eine strenge Geschlechtertrennung. Wir sind vor Gott alle gleich", ist die Meinung des afghanischen Sozialaktivisten Javad A. im Gespräch mit Telepolis.

Die Ursache der spezifischen Auslegung des Islam durch die Taliban folgt aus einem ungeschriebenen Kodex namens "Paschtunwali", was etwa "paschtunische Lebensweise" bedeutet. Diese ist eine Grundlage des Selbstverständnisses der Bewegung.

Der afghanische Gelehrte Muhammad Anwar Numjalai analysiert diesen altüberlieferten Kodex, der das Zusammenleben der afghanischen Stämme regelt. Die Paschten respektierten zwar auf ihre Art die Frauen, glaubten aber, deren Platz sei "entweder im Haus oder im Grab".

Unter den Taliban wurde dieser Kodex populär, da sie häufig als Waisen in religiösen Einrichtungen oder Militärlagern aufwuchsen, ohne persönliche Erfahrung einer mütterlichen Fürsorge oder Liebe. So fehle ihnen Empathie und Mitgefühl für Frauen.

Als die Taliban über Verbote und Beschränkungen die Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannten, demonstrierten sie ihren fehlenden Willen zur Weiterentwicklung und wollten die Sinnlosigkeit öffentlichen Drucks auf ihre Einstellung aktiv demonstrieren.

Nach dem 20jährigen, letztlich siegreichen Kampf fühlen sie sich als unumschränkte Herren im Land. Als solche sehen sie sich im Recht, auch repressivste Gesetze einzuführen. So waren auch nach Meinung der UNO alle Errungenschaften bei den Frauenrechten in Afghanistan seit Beginn der US-Intervention zum Untergang verurteilt.

Die internationale Gemeinschaft hat jedoch aktuell keine Alternative zum Aufbau von Beziehungen zu den Taliban. Nur so könne eine noch größere humanitäre Katastrophe im Land verhindert werden, meint Haroun Rahimi, außerordentlicher Professor für Rechtswissenschaften an der Afghan American University gegenüber Telepolis.

Er arbeitet aktuell im Exil im Onlineformat. "Auf jeden Fall kann die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan nicht ignorieren. Es ist unwahrscheinlich, dass die Taliban anerkannt werden. Aber die internationale Gemeinschaft sollte immer die Türen offen halten für den Fall, dass sie sich zu einer Änderung ihrer Politik entschließen" meint Rahimi.

Dieser Text entstand mit Hilfe eines Ko-Autoren vor Ort in Kabul.