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Afrin: Vertreibung, Gewalt und islamistische Repression

Mit solchen Männern zu einer besseren, demokratischeren, menschenwürdigen Ordnung in Afrin? Abdel Nasser Shamir, Chef der Miliz Faylaq al Rahman. Screenshot Video YouTube

Wie die Türkei und die von ihr angeheuerten Milizen den syrischen Distrikt mit Mafia-Methoden umgestalten. Zurückgeben an die "verbrecherische" Regierung Assad will man Afrin nicht

Die Türkei wird Afrin nicht an Syrien zurückgeben. Das haben türkische Vertreter schon mehrmals verlauten lassen. Jetzt sagte der stellvertretende Premierminister Recep Akdag der Zeitung Die Welt gegenüber noch einmal ganz deutlich [1]: "Es ist völlig unvorstellbar, dass wir Afrin an die Assad-Regierung zurückgeben. Das ist doch keine demokratische Regierung."

Mit dieser Haltung wird die türkische Regierung über kurz oder lang in Konflikt mit Russland geraten. Außenminister Lawrow hatte seinerseits darauf hingewiesen [2], dass die Türkei Afrin an die syrische Regierung zurückgeben müsse.

Die türkische Regierung hat sich dafür eine diplomatische Formel ausgedacht, die erstmal als verbale Pufferzone dient. Man wolle das Gebiet "schnellstmöglich dem syrischen Volk zurückgeben", erklärte Aldag.

Die Türkei wolle sich "nicht langfristig" in Afrin festsetzen. Einziges Ziel, außer der Rückgabe des Gebiets an das syrische Volk, sei es "im Kampf gegen terroristische kurdische Gruppen wie die YPG die Sicherheit der Türkei zu verteidigen".

Russland und Iran brauchen die Türkei

Da die Genfer Gespräche angesichts der Lage der Opposition in Syrien im Moment keine Aussicht darauf hätten, irgendetwas politisch Relevantes zu erreichen, das zu Verhandlungen nach dem Genfer Modell ermutigt, liegt das Hauptgewicht für einen politischen Prozess mit Aussicht auf Verwirklichung bei der Astana-Gruppe.

Dafür brauchen Russland und Iran - und damit auch die Regierung in Syrien - die Türkei, die als "Garantiemacht" für die oppositionellen Gruppen fungiert. Der Fokus geht nach Idlib, wo die Türkei soeben den letzten Beobachtungsposten für die Deeskalationszone aufgestellt hat [3]. Von den Regelungen, welche die Türkei mit der dort dominierenden Miliz Hayat al-Tahrir al-Sham abmachen kann, hängt viel ab.

Erdogan braucht die Afrin-Erfolgstory

Die Situation in Idlib ist kompliziert [4]. Idlib drängt sich momentan als das wichtigere Gebiet für Damaskus auf als Afrin. Die Zeit dafür, die Türkei wegen der Rückgabe von Afrin zu bedrängen, ist aus russischer und syrischer Sicht nicht günstig. Dieses "Fenster" nutzt die Türkei. Am 24. Juni steht die Wahl an, die Erdogan enorm wichtig ist. Afrin soll eine Erfolgsgeschichte sein.

Angesprochen auf die humanitäre Situation in Afrin, beteuert sein Vizepremier Recep Akdag im erwähnten Interview mit der Welt, dass die Kritik der Vereinten Nationen und der EU "nicht stimmt". Die Lage sei in anderen Teilen Syriens schlecht. Er fügte hinzu: "Ich bin gerne bereit, alle Seiten nach Afrin einzuladen, um zu sehen, was dort wirklich passiert."

Laut UNHCR-Bericht [5] sind 137.000 Personen aus Afrin geflüchtet. 100.000 der Binnenflüchtlinge (IDPs) sind in Tal Refaat untergebracht, häufig in Zeltlagern. Die Flüchtenden würden über "Gesetzlosigkeit, Entführungen und Plünderungen" in Afrin sprechen (siehe dazu hier [6] und hier [7]).

Geht es nach Informationen des kurdischen Mediums Civaka Azad, so ist die Aussage des stellvertretenden Premierministers Akdag auch an anderer Stelle nicht wirklich zutreffend. Seine großzügige Einladung an alle Seiten, nach Afrin zu kommen, um nachzuschauen, was dort los ist, stehe im Gegensatz zur Kommunikationspolitik der Regierung "im Schatten der Wahlen" [8].

Demnach sei den Medien nahegelegt worden, keine Nachrichten über Afrin zu verbreiten, "welche die Kurden verstimmen könnten".

Die Erdoğan nahen Medien befolgen diesen Befehl. Seitdem lesen wir in den Medien nur noch, wie die "mitfühlenden türkischen Soldaten und opferbereiten FSA’ler den Menschen in Afrin beistehen".

Civaka Azad [9]

Was an Berichten aus Afrin zu erfahren ist, stammt meist aus kurdischen Quellen, die oft der YPG nahe sind oder in Verbindung mit ihr stehen. Für die Regierung Erdogan ist dadurch ein leichtes, sie als Nachrichten von Terroristen abzutun.

Allerdings ergänzen oder bestätigen sich Situationsbeschreibungen und Vorwürfe von verschiedenen Seiten: Sie laufen auf ein Bild der Lage in Afrin hinaus, wo Milizen eine nur wenig oder gar nicht kontrollierte Gewalt ausüben, streng islamistische Scharia-Regelungen als maßgebliche Ordnung etabliert werden und eine Umsiedelungspolitik vorangetrieben wird, die Aldags Aussage, wonach die Türkei das Gebiet dem syrischen Volk zurückgeben wolle, zu einem Euphemismus für eine politisch gewollte demografische Veränderung Afrins [10] macht.

Vergleicht man die Situation in Afrin, wo Menschen unterschiedlicher Konfessionen und Ethnien friedlich zusammenlebten, mit den Zuständen nach der "Operation Olivenzweig", so wendet sich der Begriff des Terrorismus gegen Erdogans Mission, wie zum Beispiel einem Bericht des britischen Kriegsreporters mit langjähriger Erfahrung, Patrick Cockburn, zu entnehmen [11] ist.

Die Milizen, spezialisiert auf Unterdrückung

Die Milizen, die unter dem euphemistischen Label "Freie Syrische Armee" mit der türkischen Armee in Afrin einmarschiert sind und das Gebiet seither kontrollieren, haben, wie dies der französische Historiker Matteo Puxton, der sich auf Milizen im Irak und Syrien spezialisiert [12] hat, anhand des Beispiels Ahrar al-Sharqia in großem Detail [13] aufzeigt, Verbindungen zu dschihadistischen Hardlinern wie al-Nusra und sind ideologisch eng mit dem Salafismus verknüpft.

Ahrar al-Sharqia mit eindeutigen Beziehungen zu Dschihad-Kreisen spielt bei den FSA-Kräften, die mit der Türkei angeschlossen haben, keine Nebenrolle. Es sei aber, wie Puxton in wissenschaftlicher Akribie und in Nuancen aufzeigt, nicht angebracht, alle Gruppen als Dschihadisten zu bezeichnen.

Die Milizen sind ideologisch oft gespalten, es gibt in ihnen oft mehrere Tendenzen und unterschiedliche Biografien. Manche verfolgen - nicht nur nach seiner Expertise - durchaus verschiedene salafistische Ansätze; manche nehmen auch Abstand zu radikaleren Ausformungen, sie werden deswegen als lediglich "islamistisch" bezeichnet. In der Realität für die im betreffenden "Kontrollgebiet" der nicht-so-extremistischen Radikalen Lebenden sind diese Nuancen möglicherweise nicht bedeutend, weil die Gewalt und Diktatur so oder so stark ausgeprägt sind [14].

Der Begriff "Islamisten" mag zum Beispiel auf die Miliz Faylaq al-Rahman zureffen, wie sie etwa von der Deutschen Welle beschrieben wird [15] oder von Aron Lund. Dessen Bericht über Faylaq al-Rahman in Ostghouta [16] zeigt aber auch, dass die Gruppe Beziehungen zu den Muslimbrüdern hatte, dass sie sich in dem von ihr kontrollierten Gebiet mit Hayat al-Tahrir al-Sham bzw. al-Nusra arrangiert hatte und - das ist die für Afrin wichtige Charakterisierung: Faylaq al-Rahman regierte in seinem Gebiet autoritär und setzte "konservative religiöse Gesetze durch" und ging gegenüber abweichenden Meinungen und Haltungen repressiv vor.

Die islamistische Erneuerung

Laut einem glaubhaften Bericht des Netzwerks des ominösen SOHR [17], das allerdings einen bekannt guten Draht zu Oppositionsgruppen in Syrien hat, sind Mitglieder von Faylaq al-Rahman, darunter ihr Chef [18], nun in Afrin, wo sie sich zu Besprechungen mit der türkischen Vertretern, Armee und oder Geheimdienst getroffen haben, um die Aktivität der Gruppe in Afrin zu besprechen. Dass der Chef der al-Rahman- Legion Abdul Nasr Shamir nun samt Familie nach Afrin umgezogen ist, bestätigt auch ein The Region-Bericht [19]. Dort ist auch von der Verfolgung der Jesiden die Rede.

Auch Berichte über eine strenge islamistische Kleiderordnung [20] lassen darauf schließen, dass in Afrin nun eine rigidere, repressivere Luft der "islamistischen Erneuerung" [21] weht, gekennzeichnet von Gewalt und Plünderungen [22] und einer ausgesprochenen Nicht-Toleranz gegenüber Andersdenken, Andersglaubenden, Anderslebenden.

Es gibt auch ernstzunehmende Angriffe im Zentrum Afrins. Die Plünderungen und Verwüstung, die in den ersten Tagen dokumentiert wurden, werden nun kontrollierter durchgeführt. Die FSA-Mitglieder gehen sogar einen Schritt weiter und entführen Menschen, um ihre Familien zur Zahlung von Lösegeld zu zwingen. Bekannte Journalisten, Schriftsteller und Akademiker werden von den Mitgliedern der sogenannten FSA an unbekannte Orte verschleppt. Es gibt ernstzunehmende Hinweise darauf, dass einige von ihnen dem türkischen Geheimdienst ausgeliefert und anschließend in der Türkei inhaftiert werden. Andere Fälle betreffen Misshandlungen und Vergewaltigungen. Die regionale Presse berichtet von dutzenden jungen Frauen, die entführt und vergewaltigt wurden. Das Leben ist geprägt von Angst, mit der die Region versucht wird zu kontrollieren. Diese Strategie ähnelt eindeutig der des Islamischen Staates.

Civaka-Azad [23]

Beobachter befürchten, dass durch Ereignisse in Idlib noch mehr radikale Gruppen [24] nach Afrin kommen könnten. Ist das dann die Rückgabe von Afrin an das syrische Volk?


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4051514

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/ausland/article176392784/Vize-Premier-Recep-Akdag-Tuerkei-hat-verdient-EU-frueher-beizutreten.html
[2] https://uk.reuters.com/article/uk-mideast-crisis-syria-turkey-erdogan/erdogan-criticises-russia-says-turkey-to-decide-future-of-syrias-afrin-idUKKBN1HH1GO
[3] https://twitter.com/AbuJamajem/status/996710583285305344
[4] https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/syria/b56-averting-disaster-syrias-idlib-province
[5] https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNHCR%20Flash%20Update%20for%20Eastern%20Ghouta%20&%20Afrin%20-%208MAY18.pdf
[6] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/verhuellungszwang-fuer-frauen-in-efrin-4495
[7] https://anfenglish.com/rojava/turkish-state-and-their-gangs-now-pillage-the-wheat-in-afrin-26713
[8] http://civaka-azad.org/afrin-im-schatten-der-wahlen/
[9] http://civaka-azad.org/afrin-im-schatten-der-wahlen/
[10] http://www.hawarnews.com/en/haber/turkish-occupation-is-stirring-strife-between-components-of-afrin-h1467.html
[11] https://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/syria-civil-war-assad-regime-turkey-afrin-kurds-eastern-ghouta-us-allies-militia-a8252456.html
[12] https://twitter.com/historicoblog4?lang=fr
[13] http://www.francesoir.fr/en-coop-matteo-puxton/syrie-ahrar-al-sharqiya-ces-anciens-dal-nosra-qui-combattent-avec-larmee
[14] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/verhuellungszwang-fuer-frauen-in-efrin-4495
[15] http://www.dw.com/en/which-rebel-groups-are-fighting-in-syrias-eastern-ghouta/a-42663501
[16] https://www.irinnews.org/analysis/2018/02/23/understanding-eastern-ghouta-syria
[17] http://www.syriahr.com/en/?p=90723
[18] https://www.youtube.com/watch?v=zUT4AkYoP5A
[19] http://theregion.org/pdf/13309-turkey-facilitates-quot-demographic-change-quot-afrin.pdf
[20] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/verhuellungszwang-fuer-frauen-in-efrin-4495
[21] https://drive.google.com/file/d/1yLthMaAxYACIsh66uCKDHAbCU_5nXeGw/view
[22] https://twitter.com/EzdinaNews/status/993173585211555841
[23] http://civaka-azad.org/afrin-im-schatten-der-wahlen/
[24] https://twitter.com/NicholasAHeras/status/997088534266818560