Aiwanger, Lindemann und die Süddeutsche Zeitung: Der Skandal als Geschäftsmodell

Der neue Till Lindemann? Hubert Aiwanger. Bild: Leonie Rabea Große, CC BY-SA 3.0 DE

Chef der Freien Wähler soll irgendwas mit einem antisemitischen Pamphlet zu tun haben. Wieso tauchen solche Dokumente immer vor Wahlen auf? Ein Telepolis-Leitartikel.

Die geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Süddeutschen haben es geschafft: Mit einem Frontalangriff auf einen der populärsten Politiker Bayerns, Hubert Aiwanger, gut sechs Wochen vor der dortigen Landtagswahl steht die Zeitung im Mittelpunkt einer medienpolitischen Affäre. Gute PR, guter Zeitpunkt.

Dabei ist die Munition, mit der gegen den Chef der Freien Wähler geschossen wird, dünn. Derzeit sieht es eher so aus, als würden Nebelkerzen aus dem SV-Hochhaus in München-Zamdorf abgefeuert. Auch dafür stehen die Blattmacher zu Recht in der Kritik.

Das Ganze ist keineswegs eine bayerische Provinzposse, die man aus dem preußisch geprägten Teil der Republik, in dem dieser Text entstanden ist, mit distanzierter Gelassenheit verfolgen könnte. Vielmehr ist der "Fall Aiwanger" auch ein "Fall SZ" - und zeigt bedenkliche Tendenzen im Journalismus auf.

Die naheliegende Doppelfrage muss nach zwei Daten gestellt werden: Warum skandalisiert die Süddeutsche Zeitung als einzige überregionale Zeitung mit einem klaren landespolitischen Bezug, also in ihrer Funktion als bayerisches Medium mit bayerischer Zielgruppe, nach 35 Jahren ein Flugblatt - und das sechs Wochen vor einer Wahl, bei der Aiwanger bislang auf einen Erfolg hoffen konnte?

Auf andere Art formuliert: Wer glaubt, dass die SZ-Journalisten Katja Auer, Sebastian Beck, Andreas Glas und Klaus Ott sowie ihre Redaktionsleiter Judith Wittwer und Wolfgang Krach die Story zufällig zu diesem Zeitpunkt lanciert haben, darf getrost auch glauben, dass der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin zwei Monate nach einem Putschversuch gegen Wladimir Putin zufällig vom Himmel gefallen ist.

Auch in der Nachberichterstattung über ein antisemitisches Pamphlet, mit dem Aiwanger vor dreieinhalb Jahrzehnten in irgendeiner verantwortlichen Verbindung gestanden haben soll, macht die Süddeutsche aus ihren Animositäten keinen Hehl, was schon bei der Sprache anfängt, wenn nämlich die in Politik und Medien vornehm-übliche "Unwahrheit" nicht mehr als Vorwurf herhalten muss, sondern Aiwanger in ungewohnter Aggressivität geradeheraus und in fetten Lettern der "Lüge" bezichtigt wird.

Im Parlament gäbe es dafür einen Ordnungsruf. Was macht eigentlich der Presserat?

Aiwanger und das Pamphlet: Nichts Genaues weiß man nicht

Denn natürlich ist die Story absolut dünn. Das zeigt schon der Teaser vor der SZ-Bezahlschranke. Aiwanger "soll" das antisemitische Flugblatt geschrieben haben. Verbreitet es "offenbar". Das alles "deutet auf ein Dokument hin", das – Teufen nochmal! – "nun aufgetaucht ist". Dass solche Schriftstücke "nun" immer vor Wahlen "auftauchen", ist ein von Natur- und Parawissenschaftlern völlig unzureichend erforschtes Phänomen.

Der Telepolis-Autor Timo Rieg hat in einer Analyse der Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass Hubert Aiwanger "schon vor der ersten SZ-Veröffentlichung bestritten (hat), das Flugblatt produziert zu haben".

Inzwischen habe sich bekanntlich sein Bruder Helmut Aiwanger als Autor bekannt. Damit sei, so Rieg, "auch ein von der SZ nachgeschobenes Schriftgutachten obsolet (…), welches Hubert Aiwangers Schreibmaschine identifiziert haben soll".

Tatsächlich erinnert das Ganze fatal an den inzwischen weitgehend abgeklungenen Skandal um den Sänger der Band Rammstein, Till Lindemann. Auch hier war vor knapp drei Monaten die SZ federführend in der Berichterstattung und warf dem Musiker Sexualdelikte vor - neben Antisemitismus ein zentrales Motiv politisch-medialer Diffamierungskampagnen.

Und wie bei Aiwanger war die Faktenlage dünn. Eine 22-Jährige habe beim angeblichen Sex mit Lindemann "nicht ausdrücklich nein gesagt, sich aber extrem unwohl gefühlt". Und dann: "Den Reportern liegen weitere eidesstattliche Zeugenaussagen sowie zahlreiche Chatprotokolle vor." Dabei handele es sich um Chat-Nachrichten, "die Teile der Vorwürfe unterstreichen sollen". Welche Teile? Das weiß man bis heute nicht.

Die Ermittlungen gegen Lindemann wurden in Vilnius und Berlin inzwischen eingestellt. Wie die Wähler in Bayern entscheiden, wird sich am 8. Oktober zeigen.

Heftige Kritik an der Süddeutschen Zeitung in der Branche

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier übte nicht nur wegen des abstimmungsnahen Zeitpunkts des lancierten Skandals an der Süddeutschen Zeitung Kritik. Wie Rieg bei Telepolis nahm sich Niggemeier den am Samstag in Printausgabe und online erschienenen Text über das "Auschwitz-Pamphlet" vor.

Den Autoren wirft er vor, nicht sachlich über die Vorwürfe gegen den bajuwarischen Freie-Wähler-Chef zu schreiben. Vielmehr erwecke der Text den Anschein, das Blatt wolle Aiwanger sechs Wochen vor der Landtagswahl schaden, so Niggemeier:

Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt", moniert er. Vom ersten Absatz an sei das Seite-3-Stück mit seiner eigenen möglichen Wirkung beschäftigt: "Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge. Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler erlebt gerade einen Höhenflug, der nicht gut ist und der eigentlich längst hätte enden müssen. Aber ich, dieser Text, diese Recherche, diese Zeitung, kann ihn jetzt stoppen.

Stefan Niggemeier

Auch der Branchennewsletter Kress griff diese Kritik auf und verwies auf eine noch schärfere Replik des Journalisten Alexander Kissler, der den Vorwurf erhebt, die SZ betreibe Kampagnenjournalismus, indem sie anonyme Quellen wie Tatsachen behandele und Journalismus mit Aktivismus verwechsele. "So schadet sie der politischen Kultur", meint Kissler.

Inzwischen hat SZ-Chefredakteur – und damit freilich der Mann im redaktionellen Führungsdoppel – eine Stellungnahme veröffentlicht – und den Eindruck der politischen Kampagne damit nur noch verstärkt: "Hubert Aiwanger ist nicht mehr haltbar", schrieb Wolfgang Krach in einem Text, der wohl als Verteidigung journalistischer Standards gemeint war, sich aber wie Wahlkampfgeplänkel liest.

Nach der dünnen und rechtsstaatlich nicht verifizierten Rammstein-Lindemann-Story verfestigt sich mit der Aiwanger-Berichterstattung ein anderer, verheerender Verdacht: Setzt die Süddeutsche Zeitung angesichts der hohen Abhängigkeit von zahlenden Abonnenten und rückläufiger Verkaufszahlen auf einen als Investigativjournalismus verbrämten Kampagnenjournalismus, um den Abonnenten Dramen und Skandale zu liefern?

Übrigens: Die Pointe lieferte Bundeskanzler Scholz. Angesichts der von Aiwanger wenig glaubwürdig angeführten Erinnerungslücken zum Flugblatt-Skandal zu seinen Schulzeiten forderte der Kanzler Aufklärung.

Zeitgleich reichte der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Finanzexperte Fabio de Masi in Hamburg Strafanzeige gegen Scholz wegen Falschaussage in der Cum-Ex-Korruptionsaffäre ein. In die ist Scholz verstrickt – und behauptete offenbar wahrheitswidrig, sich an belastende Vermerke nicht erinnern zu können.

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