"Alle, die vor uns da waren"
Seite 2: Remember, how life was 30 years ago!
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Wir blieben auch in der Folgezeit per E-Mail in Kontakt, wie in den Jahren zuvor. Sie war fast all meinen literarischen Göttern oder Halbgöttern schon einmal begegnet und konnte mir zum Beispiel zu Lars Gustafsson, Wilhelm Genazino und John Berger spannende Geschichten erzählen. Einmal berichtete sie mir von einem Besuch beim SWR in Baden-Baden.
Mein Ladegerät fürs Tablet geht schon seit Längerem nicht mehr, Wackelkontakt. Ich also in einen Vodafone-Laden (so was gibt’s hier in der südfranzösischen Provinz nicht), in dem ein junger smarter Verkäufer schon nahe am Nervenzusammenbruch ist, als ich reinkomme. Vor ihm zwei wirklich sehr sehr alte Leute, eher 90 als 80, ein indisches Ehepaar, das bei sich zu Hause bei irgendeinem Anbieter, der mit Europa nicht kompatibel ist, einen Europa-Vertrag abgeschlossen hat, und nun funktioniert aber das alles nicht, und sie haben kein Netz. Schon seit gestern, und der Herr Vodafone möchte ihnen doch jetzt Netz verschaffen.
Das wiederum kann er nicht, weil er des Indischen nicht mächtig ist und also nicht bei dem indischen Anbieter anrufen und um Kundendienst für die beiden alten Leute bitten kann, auch nicht auf Englisch, weil er überhaupt nicht nach Indien telefonieren darf. Allerdings könnten sie sich natürlich für die Dauer ihrer Reise ein Pre-paid-oder-Sonstwas kaufen, er hätte da dies und das.
Die beiden waren empört, schließlich hatten sie ein all-inclusive-Paket in Indien erworben, das der Herr Vodafone ihnen jetzt bitte auf der Stelle zur Anwendung bringen sollte, und Inder - das weiß ich, weil mein Vater geschäftlich oft mit Indern zu tun hatte - sind die insistentesten Menschen der Welt und absolut nicht von was abzubringen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, und da sind sie dann endlos geduldig; die Szene wurde leicht surreal und lief in Schleife und nochmal und nochmal, es fing an, endlos auszusehen, Herr Vodafone schwitzte beträchtlich trotz der tadellos funktionierenden Klimaanlage, er sah aus, als würde er gleich tätlich werden, und im letzten Moment fiel ihm folgender genialer Ausweg ein, er sagte, ich mache Ihnen einen Vorschlag (und jetzt kommt’s): remember, how life was 30 years ago. Can you remember that? (Die beiden waren überrumpelt und einen Moment lang still) And now, when you remember how life was 30 years ago, I propose, you leave this office, go out into the summer and enjoy yourself and this beautiful summer day in Baden-Baden.
Wörtlich. Ich hab’s mir alles genau gemerkt, weil’s so schön war.
Birgit Vanderbeke
Eine, die vor uns da war
Die Frequenz der zwischen uns ausgetauschten Nachrichten wurde im Laufe der Zeit geringer, oft hatte ich das Gefühl, Birgit hatte Wichtigeres zu tun. Sie bewegte sich vom Schreiben weg, auf praktische Lebensvollzüge und die sie umgebenden Menschen zu. Sie bekam Schwierigkeiten mit ihrem Verlag und sie dachte daran, ihre weiteren Bücher im Selbstverlag herauszubringen.
Bevor es dazu kommen konnte, ist sie nun am 24. Dezember im Alter von 65 Jahren in Südfrankreich gestorben. Ich hatte ihr am Morgen noch einen elektronischen Gruß geschickt. Gegen Mittag traf eine Antwort ihres Mannes ein: "Vielen Dank für den Weihnachtsgruß, leider erreicht er Birgit nicht mehr. Sie ist heute Nacht verstorben."
Ich ging in der anbrechenden Dämmerung eine Runde über den Alten Friedhof und hing meinen Gedanken nach. Sie kreisten natürlich um Birgit und all das Ungesagte, all das Versäumte. Jeder Veränderungsprozess ist dadurch versperrt, dass er zu spät kommt. Mitten auf dem Friedhof spürte ich die Gewalt des Todes, der alles zum Verstummen bringt und jede weitere Verständigungsmöglichkeit abschneidet.
Man kann sich allenfalls mit den Worten Heinrich Bölls aus Birgits letztem Roman trösten und sich vorstellen, dass nun auch Birgit Vanderbeke zu jenen gehört, "die vor uns da waren", aber hoffentlich trotzdem noch bei uns sind. Zwischendurch habe ich mich mal gefragt, ob ich als "alter weißer Mann" über Birgit als Frau überhaupt schreiben darf? Doch da hörte ich Birgits vom Rauchen etwas raues Lachen: "Du spinnst doch!"