Alle gegen Brockhaus
Seite 3: Jagd nach Diamanten
Unter dem Namen "Brilliant Prose" fasst die englische Wikipedia die angeblich qualitativ hochwertigsten Texte zusammen - einen Abstimmungsprozess gibt es nicht, das Wiki-Prinzip soll sicherstellen, dass schlechte Texte entfernt werden. Werfen wir also einen Blick auf die entsprechenden Artikel.
Da wäre zum Beispiel der Text über das Milgram-Experiment, das die Autoritätshörigkeit von Versuchssubjekten feststellen sollte, indem sie dazu aufgefordert wurden, anderen Versuchsteilnehmern Elektroschocks zu verpassen. Mit 5800 Zeichen ist er in der Tat ausführlich. Er beschreibt die Methodik und Ergebnisse von Milgrams Studien und auch die dadurch aufgeworfenen ethischen Fragen und zitiert jüngere Forschungen. Es folgen Querverweise und Quellenangaben sowie ein Link auf Milgrams Text "The Perils of Obedience", der im Volltext verfügbar ist. Weder das Experiment noch Stanley Milgram werden in Encarta mit einem Wort erwähnt - ein echtes Defizit der teuren Multimedia-Enzyklopädie.
Der Artikel über Stephen King ist mit 10100 Zeichen fast doppelt so lang wie sein Encarta-Pendant. Das liegt vor allem an der ausführlichen Bibliographie, der Text diskutiert eher Kings Methoden als seine Werke, während Encarta stärker auf die Inhalte eingeht. Kein Wunder: Bei Wikipedia finden sich über zahlreiche von Kings Büchern eigene Artikel, die vom einfachen "Stumpf" bis zur ausführlichen Inhaltsangabe reichen, entsprechende Zusammenfassungen wären im Haupttext redundant.
Der Beitrag über den von Computersystemen verwendeten ASCII-Standard zeigt die Detailverliebtheit der Wikipedianer. Er geht auf Geschichte und verschiedene Varianten des Standards an und enthält die relevanten Tabellen, die u.a. die Kontrollzeichen des ASCII-Standards auflisten und benennen. Die Zeichen sind in Binärform, Dezimal- und Hexadezimaldarstellung aufgelistet. Der Encarta-Text ist mit 2200 Zeichen weniger als halb so lang und enthält keine Tabellen.
Neben der Informatik ist auch die Philosophie eine von Wikipedias starken Seiten. Ockhams Rasiermesser ist ein bedeutender wissenschaftsphilosophischer Grundsatz, der besagt, dass komplexe Erklärungen einfachen nicht ohne Notwendigkeit vorzuziehen sind. Der Wikipedia-Artikel ist zwar nicht unbedingt brillant, geht aber im Detail auf die Geschichte und moderne Anwendung ein und liefert ein humorvolles Anwendungsbeispiel: Wenn ein Baum im Sturm umfällt, liege es näher, dies mit dem Sturm zu erklären als mit 200 Meter großen marodierenden Außerirdischen. Er erklärt die Anwendung des Prinzips in der Statistik und Religionskritik und enthält zahlreiche hilfreiche Querverweise.
Encarta hat keinen Artikel über Ockhams Rasiermesser, es wird lediglich im Text über Ockham selbst in zwei Sätzen erwähnt. Im zweiten Satz heißt es: "Allerdings geht [die] bekannte Formel [des Prinzips] 'entia non sunt multiplicanda sine necessitate' ... nicht auf Ockham zurück", was man leicht fehlinterpretieren kann: Ockhams Rasiermesser sei nicht seine Erfindung gewesen. Dabei drückte sich Ockham lediglich etwas anders aus ("Pluralitas non est ponenda sine neccesitate" - "Ohne Notwendigkeit soll keine Vielfältigkeit hinzugefügt werden").
Auch Sprachen sind eine von Wikipedias Spezialitäten. Der Artikel über Hebräisch ist auf fünf Seiten verteilt (Geschichte, Phonologie, Morphologie, Grammatik und Alphabet) und stellt mit insgesamt etwa 30000 Zeichen eine detaillierte Einführung dar. Trotz guter Struktur kann der Encarta-Text mit 6000 Zeichen hier nicht mithalten.
Mit rund 16500 Zeichen ist auch der Text über das Brettspiel Go deutlich länger als sein Encarta-Pendant (4500 Zeichen). Er geht im Detail auf die Regeln ein und vergleicht Go mit anderen Spielen, Spielzubehör wird ebenso diskutiert wie die von professionellen Go-Spielern verwendeten Ranking-Verfahren. Da wirkt die Abhandlung der Geschichte in vier Absätzen fast schon knapp. Doch der Go-Artikel ist damit noch nicht zu Ende. Er enthält Verweise auf Detail-Artikel über Regeln, Strategien, Sprichwörter und bekannte Spieler, die zusammen noch einmal rund 25000 Zeichen ausmachen - fast könnte man meinen, in einem Go-Wiki gelandet zu sein.
Der Encarta-Artikel über Go enthält eine Zusammenfassung der Regeln und eine kurze Geschichte, doch auch die Regelerklärung ist in Wikipedia in Form einer kompakten Liste im Haupttext und einem Verweis auf den Detailartikel deutlich besser gelöst. Der Encarta-Text enthält mysteriöserweise keinen einzigen Weblink, während es bei Wikipedia gleich elf allein im Hauptartikel sind (wobei natürlich auch die Möglichkeit des Online-Spiels erwähnt wird), auch eine Go-Newsgroup wird referenziert, dafür gibt es nur eine Literaturangabe. Das Poker-Universum in Wikipedia ist noch einmal eine Nummer größer - allein der Artikel über die Spielvariante des Draw Poker ist mit rund 20000 Zeichen fast dreimal so lang wie der gesamte Encarta-Text über Poker (7000 Zeichen).
Die deutsche Wikipedia hat eine ähnliche Liste der exzellenten Artikel, doch sie ist noch relativ leer. Dort aufgeführt ist zum Beispiel der Artikel Kondom, der zwar noch einige stilistische Unfeinheiten aufweist, aber mit etwa 6300 Zeichen bereits recht ausführlich ist. In Encarta gibt es keinen eigenen Artikel über Kondome, der lange Text über Empfängnisverhütung geht in rund 1200 Zeichen darauf ein. In Wikipedia finden sich hier auch Gebrauchshinweise und Links, die in der Encarta fehlen.
Der deutsche Wikipedia-Text über Patente ist deutlich ausführlicher und kritischer als der Encarta-Artikel über das Patentrecht, und auch der deutsche Artikel über die Maul- und Klauenseuche ist ausführlicher als das Encarta-Äquivalent, geht aber kaum auf die internationale Verbreitungsentwicklung ein.