Alle gegen Brockhaus

Seite 4: Die CIA, Gedankenkontrolle und die Illuminaten

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Wie sieht es nun bei kontroversen Themen aus, bei denen man vermuten könnte, dass eine klassische Enzyklopädie sie aus politischen Gründen nicht behandelt? Traut sich die Encarta, über Menschenversuche der CIA zu berichten? Präsentiert sie sachliche und aktuelle Informationen über geheimnistuerische Organisationen wie die Bilderberger und die Trilaterale Kommission?

Der Encarta-Artikel über Verschwörungstheorien definiert sie als "Versuche, politische Geschehnisse auf ein rational nicht erklärbares, meist für böse gehaltenes Interessen- oder Machtgeflecht zurückzuführen", und hält sie für den "Ausdruck totalitärer Systeme". Es folgt ein wenig Sozialpsychologie: "Verschwörungstheorien tragen zu einer (trügerischen) Selbstvergewisserung bei, indem sie komplexe Zusammenhänge simplifizieren und durch die Zuweisung von Schuld uneingestandene Ängste in Wut und Hass auf eine identifizierbare Gruppe umlenken." Zu guter Letzt ein Hinweis auf antisemitische Verschwörungstheorien, das Ganze erstreckt sich über drei Absätze.

Ein solcher Artikel, der mehr oder weniger der Meinung eines Autors entspricht, wäre in Wikipedia kaum möglich. Die Analyse ist subjektiv und verletzt damit die heilige NPOV-Regel. Die Beispiele scheinen bewusst wegen ihrer negativen Konnotationen gewählt zu sein. Der Artikel erinnert so an ähnliche Veröffentlichungen in Mainstream-Medien wie der New York Times oder dem SPIEGEL, die meist einem Standard-Schema folgen: "Im Internet kann jeder alles publizieren. Deshalb gibt es dort viele verrückte Ideen, wie z.B. die Reptilianer und die jüdische Weltverschwörung. Verschwörungstheorien vermitteln ihren Anhängern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und sind meist unwiderlegbar." Es folgt in solchen Artikeln dann meist ein Beispiel einer plausibel klingenden Verschwörungstheorie, die widerlegt wurde ("Bilder von jubelnden Palästinensern nach dem 11. September waren falsch") - und die Welt ist in Ordnung.

Der Wiki-Artikel Conspiracy theory hat derzeit einen Umfang von etwa 23500 Zeichen (Encarta: 2000 Zeichen). Die Einleitung ist umfangreicher als der gesamte Encarta-Text. Sie ist neutraler geschrieben und enthält bereits zwei interessante Verweise: Auf die Men in Black aus der UFO-Szene und auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung, die vermutet, dass unliebsame Zeitgenossen schlicht für geistesgestört erklärt und weggesperrt werden. Wer möchte, kann sich in den beiden umfassenden Artikeln über diese Phänomene weiter informieren.

Der Artikel verweist im nächsten Teil kurz darauf, dass Verschwörungen erwiesenermaßen existieren und differenziert die Verschwörungstheorie vom Begriff der Verschwörung selbst:

"Yet if conspiracy is taken to include every back-room alliance, every unpublishable 'understanding' between political or business persons, every cartel, and so forth - every secret plan between two or more parties at the expense of a third - then conspiracy is so widespread as to be unremarkable. It is in this sense that conspiracy theory collector Colin Wilson has remarked that conspiracy is 'the normal continuation of normal politics by normal means.'"

Er stellt weiter fest, dass die Bezeichnung "Conspiracy Theory" sich hervorragend eignet, um soziale und politische Kritik zu verspotten und macht einen Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und Anschuldigungen von Verschwörungen. Es folgt eine Zusammenfassung verschiedener Elemente von Verschwörungstheorien:

  1. Ermordungen (JFK & Co.)
  2. Geheimgesellschaften
  3. Unterdrückte Erfindungen
  4. Geheimdienste
  5. Überwachungstechnologien
  6. HIV/AIDS
  7. Antisemitismus
  8. Area 51 / Außerirdische

Der Artikel enthält auch eine kurze Abhandlung über Verschwörungs-Folklore und Verschwörungs-Fiktionen wie die "Illuminatus!"-Trilogie, Umberto Ecos "Foucaultsches Pendel" und Pynchons "Versteigerung von No. 49". Dann ein typischer Wikipedia-Schnitzer, der sicher bald verschwindet: "Etwas über Oliver Stone und JFK (Film) hier - habe ich nicht gesehen".

Nun folgt der Abschnitt "Real life imitates conspiracy theory", der drei reale Beispiele für problematische Regierungsaktivitäten auflistet, deren Existenz unumstritten ist: das "Information Awareness Office", das detaillierte Informationen über US-Bürger sammeln soll; das Gedankenkontroll-Programm MKULTRA und das Abhörnetz Echelon. Über jedes dieser Themen gibt es einen eigenen Wikipedia-Artikel.

Nach diesem Text stößt der Leser auf eine horizontale Linie und den Hinweis "needs encyclopediafying", der sich auf den darunter befindlichen Textteil bezieht. Eine solche Mischung aus Text mit noch nicht vollständig überarbeiteten Bestandteilen tritt vor allem auf, wenn Artikel mit anderen verknüpft werden, derjenige, der die Operation vorgenommen hat, aber zu faul war, für Konsistenz zu sorgen. Unter dem Artikel über Verschwörungstheorien findet sich eine lange Liste von spezifischen Theorien in verschiedenen Kategorien, über die es meist jeweils eigene Artikel gibt. Die Form ist damit insgesamt noch eher unbefriedigend, der Inhalt ist aber der Encarta um Größenordnungen überlegen.

Gilt das auch für die einzelnen behandelten Themen? Für einen großen Teil schon. Der Text über das CIA-Programm MKULTRA ist mit rund 15000 Zeichen z.B. sehr umfangreich, er beruht ursprünglich auf einer Public-Domain-Veröffentlichung, wurde aber massiv überarbeitet. Er geht detailliert auf die unter der Abkürzung laufenden Programme zur Gehirnkontrolle ein, bei denen mit Drogen und Elektroschocks Versuchspersonen gefügig gemacht werden sollten, und beschreibt auch die Geschichte des Projekts, erste Enthüllungen durch die New York Times und die Gerichtsprozesse, die folgten.

Encarta erwähnt MKULTRA mit keinem Wort.

Nicht ganz so krass ist es beim Counter Intelligence Program (COINTELPRO) des FBI, das sich gegen linke politische Gruppierungen richtete. Encarta erklärt das Programm in einem langen Absatz im Artikel über das FBI: ".. richteten sich u.a. gegen Interessengruppen der Schwarzen, Bürgerrechtsorganisationen, sozialistische Organisationen, aber auch gegen rassistische Gruppierungen und die so genannte Neue Linke, die gegen den Vietnamkrieg war. Im Verlauf dieser und anderer Programme verübte das FBI illegale Einbrüche in Wohnungen oder Firmen, hörte ungenehmigt Telefongespräche ab, sammelte delikate Informationen, um diese für politische Zwecke zu nutzen. Das FBI ließ diese Informationen auch an die Medien durchsickern .."

Die Überwachung Martin Luther Kings, der mit Informationen über eine außereheliche Affäre diskreditiert werden sollte, wird genannt. Der entsprechende Wikipedia-Artikel ist trotzdem ausführlicher und beschreibt die Methoden des Programms und seine Geschichte im Detail, natürlich mit Links auf kritische Websites.

Weder die Trilaterale Kommission noch die Bilderberger werden in Encarta erwähnt. Sie zählen zu den Lieblingsobjekten der Verschwörungstheoretiker, da sie nachweislich existieren, trotzdem aber ihre High-Society-Treffen weitgehend geheimhalten. Wikipedia hat über beide Gruppen immerhin kleine Stubs (Bilderberger Group und Trilateral Commission), die sicher im Laufe der Zeit zu ansehnlichen Artikeln anwachsen werden. Der Text über Echelon ist eher apologetisch, aber weitaus umfassender als die kurze, faktenarme Zusammenfassung im Encarta-Artikel über die NSA. Wikipedia enthält erwartungsgemäß Hinweise auf aktuelle Entwicklungen in Bezug auf Terrorismus, die bei Encarta fehlen.

Die Abhandlung der Drogenproblematik ist in Wikipedia erheblich ausführlicher. Neben dem erwähnten Text über den "War on Drugs" gibt es auch eine rund 19500 Zeichen lange Analyse des Einsatzes von Marihuana als Schmerzmittel, was in den USA ein extrem brisantes Thema ist. Darin findet sich eine Darstellung der momentanen Situation in den verschiedenen Bundesstaaten, die oft in Reibereien mit der Regierung geraten, weil die einen massiven Anti-Legalisierungs-Kurs vertritt. Man erwartet zwar in der deutschen Encarta nicht unbedingt solche Details, doch zumindest eine Kurzzusammenfassung wäre wünschenswert.

Ein ähnlich schwaches Bild gibt die Encarta beim Thema des Anti-Amerikanismus ab, das in der von Amerikanern dominierten englischen Wikipedia verhältnismäßig neutral behandelt wird und die Argumente der Amerika-Kritiker nicht verschweigt. Encarta erwähnt den Anti-Amerikanismus zumindest namentlich nur im Artikel über Osama bin Laden.