Alltag und schöner Schein
Die "Eigenlogik von Städten" und die geheimen Verbindungslinien von Ästhetik, Teilhabe und Lebensstil
Wie das urbane Gewebe, so sei, formulierte einmal Claude Lévi-Strauss, "auch das soziale und kulturelle Gewebe durch und durch löchrig. Man musste sich nur ein Loch aussuchen und hindurchschlüpfen, wenn man wie Alice hinter die Spiegel gelangen wollte, wo man eine verzauberte, unwirklich scheinende Welt finden konnte."
Was der Ethnologe schon vor mehr als zwanzig Jahren zu sehen glaubte, als sich die postmoderne Stadt soeben anschickte, den öffentlichen Raum in ihrem Zentrum zu privatisieren, indem er musealisiert und von der Unterhaltungsindustrie kommerzialisiert wurde, das hat sich längst als gesellschaftliche Tendenz etabliert.
Doch was hieße es, wenn die Stadt für den Bewohner das gleiche bedeutet, was die Ornithologie für die Vögel ist? Wenn die Bevölkerung nur müde und seltsam unberührt zur Kenntnis nimmt, wie ihre Stadtzentren auf einen nachindustriellen Kurs getrimmt werden? Wenn der Begriff "Gestalt" zwar behauptet‚ dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, aber verschweigt, dass die Addition der Teile zu diesem Ganzen nicht naturwüchsig ist, sondern ein gesellschaftlicher Akt?
Auf solche Fragen eine Antwort zu finden, hängt von der persönlichen Werthaltung ab und ist wohl stets ambivalent eingefärbt. Immerhin bieten sie Anlass, über das Wechselverhältnis von Gesellschaft und gebauter Umwelt nachzudenken. Ein so aktuelles wie breit angelegtes Forschungsfeld gibt dem nun zusätzliche Nahrung.
Die Eigenlogik der Städte
Der an der TU Darmstadt angesiedelte Schwerpunkt "Eigenlogik der Städte" will die grundlegenden Strukturen unserer Städte verstehen sowie Relationen und Ähnlichkeiten zwischen Orten nachvollziehen. Was die rund 35 unter diesem Dach versammelten Lehrstühle eint, das ist ihr Anspruch, Räume und Häuser nicht bloß als unbelebtes Etwas, sondern als Substrat übergeordneter Zusammenhänge wahrzunehmen. Und das meint mehr als die vielzitierten Phänomene des urbanen Lebens – wie Rassismus, Armut, Verbrechen, Drogen oder Obdachlosigkeit.
Freilich wird es dann schnell unübersichtlich – wofür fachsprachlich meist der Begriff "komplex" zum Einsatz kommt. Man mag das abtun als Überfrachtung oder Überhöhung der Wirklichkeit. Man kann es aber auch - wie Frank Eckardt - zum Anlass nehmen, Theoriebestände aufzuspüren, die sich ansatzweise mit der Komplexität des Urbanen beschäftigen und die entsprechend ausbaufähig sind.
Die bisherige Stadt(geschichts)forschung jedenfalls genügt nicht jedem Anspruch, fußt sie doch auf einem relativ einfachen Stadtbegriff, in dem die vielschichtigen Wechselverhältnisse von Kultur-, Gesellschafts- und Naturgeschichte kaum zum Tragen kommen. Beispielsweise sagt ein Gebäude oder Ensemble noch "nichts über ihren früheren Sinn- und Nutzungszusammenhang und noch viel weniger über die Bedeutung für den heutigen Betrachter und Benutzer. Aus Kirchen werden Parkhäuser und Diskotheken, die Pyramiden wurden jahrhundertelang als Teppichlager benutzt. Dennoch ist die gebaute Stadt nicht beliebig lesbar und kann zugleich "an sich" nicht wahrgenommen werden".1
Dafür und deshalb braucht es "Imagination"; sie führt gewissermaßen zu einer komplexen Ordnung, indem sie einerseits für das wirkliche Leben Orientierungspunkte bietet, und andererseits eine Reflexion realer Vorgänge darstellt. Unabdingbar ist zudem ein transdisziplinärer Anspruch, weil nur so jener Zustand überwunden werden kann, in dem die einzelnen Wissenschaften bei Beibehaltung ihrer eigenen Logik sich austauschen. Stadt offenbart sich als eine besondere Konfiguration von Geschichtlichem und Gegenwärtigem, von gebauter Umwelt und dem daraus entstehenden Sozialen – aber auch von der Gestaltungskraft des Räumlichen. Allerdings scheint die Architektur der Unsicherheit und Entfremdung des modernen Lebens keinen alternativen Entwurf (mehr) entgegen zu stellen.
Bedeutung der Baukunst für das Alltagsleben
Womit die latente Konfliktdimension zwischen Architektur und Benutzern angesprochen ist. Und das wirft gleich die nächste Frage auf: Die Suche nämlich nach einem verbindlichen Sinngehalt, der von der heutigen Baukunst ausgeht und in die moderne Gesellschaft hineinwirkt. Doch allzu große Erwartungen darf man diesbezüglich kaum hegen: Wenn der Mensch nicht einmal schlüssig seine gesellschaftliche Grundhaltung normativ zu begründen vermag, wie soll er da architektonische Werke von allgemeiner Bedeutung entwerfen können?
Gleichwohl wird in der einschlägigen Szene unverdrossen gefordert, sich erneut auf die Avantgarde von vor hundert Jahren zu beziehen. Diesem vermeintlichen Patentrezept hängt auch Jörn Köppeler an:
Denn dass es sich angesichts der weitgehenden Lebensferne und Sinnfremdheit des zeitgenössischen Bauens lohnte, wieder anzuknüpfen an diesen Architekturgedanken einer geistig-ästhetischen Moderne, begründet sich darin, daß in diesem Gedanken die Möglichkeit von Wahrheit, Sinn selbst also geborgen ist.
Jörn Köppeler
Den oft gehörten Vorwurf, sich in abgründig wirklichkeitsfremden Diskursen zu verlieren, wird man auf diese Art jedenfalls nicht los.
Womöglich ist die Frage der Baukunst für das Alltagsleben jedoch nicht so entscheidend wie andere: Welchen Bezug haben die Bewohner zu ihrem Raum? Wie nehmen sie ihren Wohnort wahr und welche Bedeutung messen sie ihm bei? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Planung? Solchen Themen widmet sich eine weitere Studie, die in einem instruktiven Sammelband veröffentlich wurde.2 Dessen Autoren, zumeist Sozialwissenschaftler und Verkehrsexperten, bemühen sich um generelle Aussagen, die sie anhand von zehn Untersuchungsgebieten im Kölner Raum empirisch gewinnen. Diese wiederum bilden einen buntscheckigen Strauß: Innerstädtischen Quartieren (wie Nippes und Ehrenfeld) stehen vorstädtische (Zündorf) oder suburbane Siedlungen (Kerpen/Sindorf) gegenüber. Doch auch die einzelnen Viertel sind keineswegs homogen; Stammheim etwa ist von einer Diskrepanz zwischen der Außenwahrnehmung - als sozial konfliktträchtiges Quartier - und der Bewertung durch die Einwohner geprägt.
Dennoch lassen sich sieben Aspekte herausdestillieren, die die Bewohner als ausschlaggebend für ihr Verhältnis zu ihrem Wohnort halten:
- Die emotionale Bindung an den Raum auf Grund der eigenen Lebensgeschichte;
- die soziale Zusammensetzung der Nachbarschaft;
- Freizeit- und Versorgungsmöglichkeiten sowie die Aufenthalts- und Freiraumqualität;
- das Image eines Gebietes, von dem man sich angesprochen fühlt;
- die Gestaltung der Wohnung bzw. des Hauses selbst (wie weit vermag ich meine Wohnwünsche hier zu realisieren);
- Verkehrsanbindung und Erreichbarkeit;
- und schließlich relationale Lagebeziehungen, die den eigenen Wohnstandort mit Blick auf seine Lage zu anderen Zielen einschätzen.
Ein einhelliges Urteil zum heutigen StadtLeben freilich gibt es nicht. Zwar lässt sich die Dichotomie von Entankerung und Distanzorientierung, wie von namhaften Soziologen formuliert, an diesen Fallbeispielen kaum bestätigen. Vielmehr fänden neuerliche räumliche Bindungen statt, wobei "gesunkene Raumwiderstände" und ein größeres Maß an Alltagsmobilität teilweise erst Voraussetzung für bestimmte Bindungsprozesse darstellen. Zugleich aber stünden "langjährig stabilen Gebieten mit gemeinsamen räumlichen Kontexten und hoher Quartiersbindung der Bewohnerschaft durch den einsetzenden Zuzug anderer Bewohnergruppen Brüche bevor". Dabei zeigt sich jedoch, dass in Gebieten, in denen kontinuierlich verschiedenste Raumansprüche bestehen, die Integrationsfähigkeit stärker ausgeprägt ist. So wird in manch großstädtischem Kiez Zuzug und neuer Mix von der Szene durchaus positiv empfunden. Allerdings kosten sie den Preis, dass sich die Alteingesessenen aus dem öffentlichen Raum zurückziehen und ihre sozialen Kontakte in die private Sphäre verlagern.
Womit der Ball wieder im Spielfeld der Stadtpolitik liegt. Denn was gebaut wird, wie etwas geplant wird, das sagt viel über die Gesellschaft aus, in der es stattfindet. Und umgekehrt. Einerseits hat sich die Architektur – mit ihren "Raumbildern für Lebensstile" und "Bühnenbildern für die Stadtkultur" – in der Erlebnisgesellschaft längst unentbehrlich gemacht. Andererseits wird ihre soziale und politische Aufladung, die tatsächliche wie die intendierte, nach wie vor zu wenig betrachtet.
Freilich kann das tösende Theorie-Gebrumme auch zu Ablehnung führen. Was bringen solche Reflexionen? Mag das Erscheinungsbild der Städte auch unbefriedigend sein, das Leben selbst ist es ja nicht unbedingt. Hat doch heute etwa der typisch urbane Mix aus unsanierten Gründerzeit-Häusern und durchgestylten Restaurants, aus leeren Lagerhallen und abgefahrenen Szenetreffs, Graffiti-geschmückten Bauzäunen, exklusiven Boutiquen, aus zugemüllten Brachen und experimentellen Underground-Lokalitäten den richtigen Vibe für alles, was cool und bei Kasse ist. Wäre deshalb nicht das abstrakte, aus dem Typus hergeleitete Verständnis der Stadt durch ein konkretes, von den Spuren des Alltages gezeichnetes zu ersetzen?
So simpel ist die Sache leider nicht. Kultur stammt von dem Lateinischen cultura: Sorge um etwas. Wie geht man etwa damit um, wenn die Strukturen des urbanen Lebens in Design-Laboratorien und Architektenbüros entwickelt werden, statt sich aus der Nutzung des öffentlichen Raums zu ergeben? Gestaltung ist nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern Ausdruck des Umstandes, dass man sich kümmert: Auch und gerade um die Belange der res publica. Seit einiger Zeit zeichnet sich erfreulicherweise eine Tendenz ab, die die ausgetrampelten Pfade hinter sich lässt. Im Unterschied zu den so genannten "drop sculptures" – auf sich selbstbezogene, autonome, im Stadtraum aufgestellte Arbeiten – entwickelt sich eine künstlerische Praxis, die den (Stadt)Raum konzeptuell integriert. Und wollte man das verallgemeinern, dann ginge es uns um eine ästhetische Lebens- oder Alltagswissenschaft, die "die Bewegung des Urbanen im Gefüge von lebensweltlichen, psychischen, sozialen und politischen Faktoren gleichzeitig situativ bestimmen und für das Handeln im Unbestimmten öffnen" will.3
Städte als sinnliche Orte
Nun gibt es augenscheinlich kein Problem, welches nicht schon an und in den Städten imaginiert worden wäre. Die aktuelle Perspektivenvielfalt aber verdeckt ihr einheitsstiftendes Fundament. Denn immer ist es die "Stadt", die für etwas anderes – etwa Gesellschaft, Moderne, Kapitalismus – steht. Endlich aber wird das Dilemma einer Stadtforschung, die sich für die konkreten Konstellationen in einer Stadt nicht interessiert, zum Anlass genommen, um eine dezidierte Gegenposition zu formulieren. So erfreulich wie ertragreich ist dies schon deshalb, weil die "Stadt der Soziologen für gewöhnlich ein unsinnlicher Ort ist, eine Stadt, die man nicht hört, nicht riecht, nicht schmeckt, genau genommen ein Nicht-Ort".4
Der Schlüsselbegriff für dieses Unterfangen hat maßgeblich Martina Löw geprägt. Eigenlogik meint, dass die Struktur einer Stadt sich auf deren Bewohner auswirkt, die Stadt sich so gewissermaßen in die Körper ihrer Bewohner einschreibt. Eigenlogik stellt darauf ab, dass es von Ort zu Ort je spezifische und typische Eigenschaften gibt, und damit "stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnformung einer Stadt".5
Der Ansatz mit der Eigenlogik jedenfalls ist schon deswegen eine prima Sache, weil er einen neuen Zugang gewährt. Zugleich gibt er jener dialektischen Beziehung einen sinnigen Rahmen, in der die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur Ausdruck des Sozialen, sondern auch des Physischen ist und vice versa. Städte sind nicht nur der Handlungsrahmen, innerhalb dessen man agiert, sondern diese Vorgänge konstituieren Wirklichkeit; und diese Realität wiederum bringt den Akteur mit seinem Bewusstsein hervor, seinen Möglichkeiten und Chancen, seinen Dispositionen und Bedürfnissen.
Dass eine lokale Biersorte in Köln sehr viel mehr stolze Identifikation herzustellen vermag als etwa in Frankfurt; dass Melancholie oder Optimismus damit zusammenhängen, ob die Bürger einer Stadt aktiv an deren Gestaltung teilhaben; dass die Love Parade in Berlin anders funktioniert als in Dortmund oder Essen: Geahnt haben wir das zwar schon, aber bezeugt hat es bislang niemand.