Als Russland rot wurde: 105 Jahre Oktoberrevolution

Versprochen wurde die Herrschaft der Vielen. Das Ölgemälde "Der Bolschewik" von Boris Kustodijew (1920). Quelle: Wikimedia Commons

Magischer Traum und Weltensturz: Der "Sturm auf das Winterpalais" markierte eine Zeitenwende anderer Art. Was ist aus dem Versprechen des Neuen Menschen geworden? Eine Spurensuche. (Teil 1)

Die Chronik der Weltgeschichte kennt kein bedeutsameres Ereignis als die Große Sozialistische Oktoberrevolution (…).


Illustrierte Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Ost-Berlin 1982

Der Putsch der Bolschewiki in Petrograd am 25. Oktober/7. November 1917 und die anschließende Entwicklung bieten das grundlegende Modell der Machtergreifung einer totalitären Minderheit.


Klaus Hornung, Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts. Berlin/Ffm 1993

Der Staat zerfiel wie ein Klumpen feuchten Lehms. (…) Eine billige Demagogie blühte auf den mit Mist bedeckten Märkten.


Konstantin Paustowskij, Beginn eines unbekannten Zeitalters. München 1962

Nach unserer Zeitrechnung, dem Gregorianischen Kalender, markiert der 7. November das Datum der Roten Oktoberrevolution. Mehr als drei Generationen lang feierten die Sowjetunion und ihre Satelliten an diesem Tag den Triumph einer neuen Gesellschaftsordnung, den Aufbruch in eine neue Ära der Menschheitsgeschichte.

Heutzutage funktioniert das nicht mehr so: Nichts fürchtet Wladimir Putin mehr als das Gespenst der Revolution, das mit den ruhelosen Umbruchsjahren verbunden ist.

Dass der Umsturz als "Oktoberrevolution" bekannt bezeichnet wird, ist dem Julianischen Kalender geschuldet, an dem das Land bis 1918 festhielt. Demzufolge fiel die Revolution auf den 25. Oktober 1917. Nach der Kalenderreform – eine der ersten Initiativen der Bolschewiken – galt in Russland die neue Zeitrechnung. Die Revolution fiel damit in den November (7. und 8. November), zehn Jahre später (ab 1927) in Gestalt zweier arbeitsfreier Feiertage. Im selben Atemzug ging es den orthodoxen Feiertagen an den Kragen.

Im postsowjetischen Russland wurde der Revolutionstag umbenannt in "Tag der Harmonie und Versöhnung", ab 2005 komplett ersetzt. Im heutigen Reich ist der 7. November somit kein Ruhetag mehr.

Schicksalsjahr 1917

Nach der Abdankung von Zar Nikolai II. führte seit März des Jahres 1917 eine Übergangsregierung das Land. Sie erwies sich als schwacher Behelf. Zudem herrschte immer noch Krieg. Dienstmüde Soldaten schlossen sich den radikalen Bolschewiken an, viele von ihnen Bauern, die auf ein besseres Leben hofften. "Die Macht gehört nun den von den Sowjets repräsentierten Arbeitern und den Bauern", teilte man ihnen mit.

Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des Zarenreiches waren um 1900 Bauern (größtenteils Analphabeten). Rund drei Millionen zählte die erst ansteigende Masse der Industriearbeiter. Von einem Industrieproletariat westlichen Zuschnitts kann kaum die Rede sein. Das zaristische Russland mit seinem Völkergemisch und seinen gewaltigen Territorien war nach westlichen Maßstäben industriell hoffnungslos rückständig.

Die Sowjets ("Räte") waren Komitees nach dem Vorbild der Pariser Commune und der ersten Revolution von 1905, die von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen gewählt wurden. An der Spitze stand der Petrograder Sowjet, eine Art Parallelregierung und rivalisierendes Machtzentrum der provisorischen Regierung, in dem die Bolschewiki anfangs nur in der Minderheit waren.

Petrograd ist der zeitweise Name der russischen Hauptstadt seit Beginn des 1. Weltkriegs, zuvor (und nach 1991 wieder) St. Petersburg. 1924 bis 1991 hieß die Stadt Leningrad.

Über die im Unterschied zu den urbanen Regionen eher "weltvergessenen" Winkel im Land schreibt Konstantin Paustowskij (1892 bis 1968) in seinem Erinnerungsbuch:

Alles vermengte sich dort (fernab der großen Städte) mit den Überresten der Vergangenheit in wirrem Durcheinander, mit den Balsaminazeen vor den Fenstern, dem vielstimmigen Geläut der Glocken, mit Bittgebeten und feuchtfröhlichen Hochzeiten unter dem Salut der Bauernflinten, mit weiten Flächen kärglichen Getreides, die vor lauter Hederich giftig gelb schimmerten, und mit Gesprächen von dem Weltuntergang, der von Rußland nur "schwarze Nacht und drei Rauchsäulen" übriglassen würde.


Konstantin Paustowskij, Beginn eines unbekannten Zeitalters. München (Propyläen) 1962, S. 51

Während des russischen Bürgerkriegs arbeitete Paustowskij als Journalist und Berichterstatter in Moskau, Kiew und Odessa.

Nieder! Hurra!

Der Krieg, die Zögerlichkeit der Übergangsregierung, wachsende Unruhe, Enttäuschung und Zorn in der Bevölkerung spielten den Bolschewiki in die Hände. Seit September besaßen die Anhänger Lenins und Trotzkis im Petrograder Sowjet die Mehrheit, bald auch in Moskau. Der Petrograder Sowjet wählte Leo Trotzki (Leo Bronstein, 1879-1940) am 6. Oktober 1917 zum Vorsitzenden - einen Intellektuellen und Strategen der ersten Stunde, Gründer der Roten Armee (und überdies einer "Arbeitsarmee"), vielfach beschrieben als brillanter Redner und Agitator, aber auch ein entschiedener Machtmensch.

Die russischen Sozialisten fielen, grob gesagt, in den radikalen Flügel der Bolschewiken (Bolsheviks) und, auf der anderen Seite, die bürgerliche Reformbewegung der Menschewiken (Mensheviks) auseinander. Innerhalb der Bolschewiki tat sich ein radikalerer jakobinischer Flügel durch ungehemmte Agitation hervor.

Im Laufe des Jahres schaukelten sich die Ereignisse hoch. Eine Chronologie der Ereignisse soll hier nicht nacherzählt werden. Kompakt wurden Stationen und historischer Kontext des Aufstands vom Oktober 1917 in einer ARTE-Doku behandelt.

Die Bolschewiki führten die Losung von Land, Freiheit und Volkswille (oder, wie es 1917 überall hieß: Brot, Frieden und Land) bald ad absurdum. Unter Lenin entstand ein Machtapparat, der das Ende erhoffter sozialistischer und demokratischer Strömungen besiegelte. Wenige Tage nach dem Putsch wurde die Pressefreiheit eingeschränkt.

Die frühen russischen Sozialisten sahen in der Eigentumsstruktur der Dorfgemeinde einen egalitären Kern ("Dorfkommunismus"), aus dem heraus sie schrittweise die Gesellschaft verändern wollten. Lenin interessierte das Problem in der Totalperspektive; er war nicht Fürsprecher einer "Theorie der kleinen Taten" und ging davon aus, dass – wie Georg Lucács in seiner Lenin-Studie 1924 treffend feststellt - das "Volk" (…) "klassenmäßig noch eine sehr wenig deutliche Physiognomie" hatte. Wie dem abhelfen?

Anders gesagt: Zu der Zeit, von der hier die Rede ist, war unter den Theoretikern eines spezifisch russischen Weges strittig, "welche Gesellschaftsklasse der wirkliche Motor der russischen Revolution zu werden berufen ist" (Lucács, über Lenin a.a.O.).

Vom Februar bis Herbst 1917 glich das Land Tag und Nacht einer pausenlosen, chaotischen Volksversammlung. (…) Schwüre, Aufrufe, Enthüllungen, Ansprachen – alles ging unter in dem rasenden Schrei "Nieder!" oder in einem begeisterten, heiseren "Hurra!", und das rollte über alle Straßenkreuzungen wie donnernde Räder über Kopfsteinpflaster.


Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 42

Wie festgestellt, befand sich das Land in einem vagen Zwischenzustand. Die gewohnten Hierarchien waren in Auflösung, die Macht nicht klar verteilt, unklar die ökonomische, von einem blutigen Krieg zerrissene Situation, undefiniert die Rolle der Bourgeoisie - notwendiger Helfer bei der Überwindung des Feudalismus oder Hemmschuh im notwendigen Gang der russischen Geschichte?