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Als am 24. März 1999 der Kosovo-Krieg begann

PsyOp-Flugblatt der Nato, die im Mai 1999 abgeworfen wurden. Bild: Nato

Mit dem Krieg wandelte sich die NATO vom Verteidigungspakt zum Interventionsbündnis, die deutsche Regierung spielte eine herausragende Rolle

Am 24. März 1999 begann die im allgemeinen Sprachgebrauch als "Kosovo-Krieg" bekannte NATO-Operation Allied Force. Das Bündnis griff Jugoslawien/Serbien an, obwohl das Land kein NATO-Mitglied und auch sonst keinen souveränen Staat attackiert hatte. Das Transatlantische Bündnis war bis dato als Verteidigungspakt konzipiert gewesen. Handelte es sich also um einen Angriffskrieg?

Generalsekretär Javier Solana reklamierte für die ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat begonnenen Luftschläge gleich Recht und Gerechtigkeit auf Seiten der NATO.1 [1] Die Luftangriffe dienten vielmehr, so das westliche Verteidigungsbündnis, dem Frieden: Man wolle den Albanern im Kosovo gegen die Unterdrückung durch Serbien helfen, um einen drohenden Völkermord zu verhindern. Die propagandistische Behauptung eines "neuen Auschwitz" (Joschka Fischer) als zentrales Element der moralischen Argumentation der Interventionsbefürworter2 [2] war durch Fakten allerdings nicht abgesichert.

PsyOp-Flugblatt der Nato, die im Mai 1999 abgeworfen wurden. Bild: Nato

UNO-Generalsekretär Kofi Annan etwa stellte fest, dass Serben und Albaner gleichermaßen die Verantwortung für den Konflikt trügen, und rief zu einer politischen Lösung auf.3 [3] Dies wurde aber ignoriert und stattdessen die Schuld dem "neuen Hitler" Slobodan Milošević zugeschrieben. Im Februar 1999 lud die westliche Staatengemeinschaft die Konfliktparteien nach Rambouillet bei Paris, um eine friedliche Lösung zu erzwingen. Die beiden Maximalziele, der albanische Wunsch nach Eigenstaatlichkeit des Kosovo und der serbische nach Verbleib im jugoslawischen Staat waren jedoch unvereinbar. Aus diesem Grund und weil das Land mit einem nicht verhandelten Zusatzprotokoll konfrontiert wurde, welches der NATO u. a. Bewegungsfreiheit in ganz Jugoslawien garantiert hätte, verweigerte Serbien daraufhin, selbst für manchen Interventionsbefürworter nachvollziehbar, die Unterschrift.4 [4]

Der Öffentlichkeit blieb der Grund für das Scheitern der Verhandlungen bis nach Kriegsbeginn unbekannt. Die Luftangriffe zur angeblichen Rettung der Albaner vor dem behaupteten "drohenden Genozid" verhinderten indes nicht, dass Hunderttausende flohen oder vertrieben wurden. Dies führte zu berechtigter Kritik am Vorgehen des Nordatlantikpakts. Dennoch beschloss die NATO im April 1999 anlässlich ihres 50. Geburtstags, zukünftig weltweit zugunsten von unterdrückten Völkern einzugreifen. Was die einen als Schritt zur globalen Friedenssicherung begrüßten, kritisierten andere als Verwandlung eines Verteidigungs- in ein Angriffsbündnis.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die Einleitung zu dem vor kurzem erschienenem Buch von Kurt Gritsch: "Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen" [5] (296 Seiten, innsbruck university press, 29,90 Euro.)

Kurt Gritsch bietet eine umfassende Darstellung des Kosovo-Konflikts und beleuchtet dabei sowohl die Vorgeschichte als auch die Folgen. Er zeigt auch, dass eine diplomatische Lösung des Konflikts nicht allein an Jugoslawien scheiterte. Nicht zuletzt die albanische "Befreiungsarmee" UÇK und die NATO hatten großes Interesse an der militärischen Eskalation. Während die UÇK die Macht über die Provinz übernahm, wandelte sich die NATO vom Verteidigungspakt zum Interventionsbündnis. Damit waren die Weichen für weitere Kriege gestellt.

Warum führte die NATO den "Kosovo-Krieg"? Die katastrophale humanitäre Situation von Sommer 1998 mit einer Viertelmillion Binnenflüchtlingen war im Oktober desselben Jahres durch Verhandlungen gelöst worden. Vor Kriegsbeginn im März 1999 gab es keine neue "humanitäre Katastrophe", diese wurde erst ab 24. März durch den Beginn des Bombardements zur Realität. Der Schutz der Albaner war, das zeigte auch die Strategie der Luftangriffe, Nebensache.

Die NATO wollte zeigen, dass sie nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte. Ziel war die Wandlung vom Defensiv- zum Interventionsbündnis. Zudem ermöglichte sie einzelnen Mitgliedern Profit: Deutschland, das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Der größte Erfolg gelang den USA. Sie erreichten die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Für den "Weltfrieden" sollte zukünftig nicht mehr die UNO zuständig sein. Der Weg zu weiteren Kriegen im 21. Jahrhundert war damit vorgezeichnet.

Alternativlos?

"Es gab nie wirklich eine Alternative, selbst für die nicht, die diesen Krieg heftig kritisiert haben - wenn sie wirklich die Konsequenzen des Nachgebens bedacht hätten."5 [6] Damit rechtfertigte der bundesdeutsche Außenminister Joseph "Joschka" Fischer am 21. Juni 1999 die Entscheidung zugunsten des Luftkriegs der NATO gegen Jugoslawien. UNO-Quellen und Aussagen involvierter Akteure zeigen jedoch, dass Alternativen in der westlichen Kosovo-Politik existierten. Bestehende Friedenschancen wurden allerdings, wie im Herbst 1998 oder im Februar 1999, entweder nicht genutzt, oder von beteiligten Mächten untergraben.

Serbien war unter Milošević, der im innenpolitischen Diskurs vom noch nationalistischer agierenden Vojislav Šešelj übertroffen wurde, nur partiell zu Kompromissen bereit. Dies trifft aber auch auf die UÇK zu, die einerseits an ihrem Maximalziel Sezession festhielt und andererseits ihren Terror ausgerechnet nach dem sogenannten Holbrooke-Milošević-Abkommen zu einem Zeitpunkt massiv steigerte, an dem sich die Gegenseite zurückhielt. Als Serbien dann reagierte, desavouierte es durch die überaus harten militärischen Reaktionen das Abkommen völlig. Friedenschancen scheiterten aber auch daran, dass die OSZE-Mission von ihren Mitgliedstaaten zu wenig Unterstützung erfuhr, wobei die US-amerikanische Obstruktionspolitik am markantesten war.

Die zweite Friedenschance in Rambouillet wiederum scheiterte an der Kompromisslosigkeit der UÇK-Vertreter, an der geringen Flexibilität der serbisch-jugoslawischen Delegation und nicht zuletzt an der Kriegszielpolitik der USA. Während manche europäische NATO-Mitglieder einen Kompromiss anstrebten, war die Weltmacht an einem solchen immer weniger interessiert.

Aus Angst vor der Spaltung des Bündnisses und unter US-amerikanischem Druck trugen schließlich alle NATO-Mitglieder die Luftangriffe mehr oder weniger bis zum Kriegsende am 10. Juni 1999 mit. Dabei hatten sich alle Beteiligten verkalkuliert: Die NATO hatte auf ein Einlenken Jugoslawiens binnen weniger Tage, Milošević auf das Zerbrechen der westlichen Kriegskoalition in einem vergleichbaren Zeitraum gesetzt. Die gewählten Mittel verschärften die Kosovo-Krise indes massiv, die Zahl der Vertriebenen erreichte nahezu eine Million, jene der Toten überstieg die Phase des Bürgerkriegs um mehr als das Zehnfache. Damit wurde die "humanitäre Katastrophe", welche die NATO angeblich verhindern wollte, erst vollumfänglich zur Realität.

Der Weg in den Krieg

Vor der Matrix westlicher Berichterstattung des "Bosnien-Krieges", die großteils in serbische Aggressoren und bosnisch-muslimische Opfer unterteilt hatte, wurde im "Westen" der seit Anfang 1998 eskalierende Konflikt zwischen der albanischen UÇK und serbischen Antiterroreinheiten im Kosovo zunehmend als Fortsetzung serbischer Vertreibungspolitik interpretiert. Dass sowohl die UNO als auch die vor Ort vermittelnde OSZE diese Wahrnehmung nicht teilten, verkam beim Gros der Massenmedien zur Randnotiz.

Eine F-15C Eagle im Einsatz im April 1999. Bild: USAF

Selektive Faktenauswahl und moralische Argumentation führten schließlich zur Wiederbelebung des ebenfalls aus dem Bosnien-Krieg stammenden Vergleichs Serben=Nazis. Damit wurde der Spielraum für eine Kompromisslösung wesentlich eingeschränkt. Westliche Regierungen zeigten sich bemüht, der "humanitären Katastrophe" Einhalt zu gebieten, und luden die Konfliktparteien im Februar 1999 nach Rambouillet sowie im März zur Nachfolgekonferenz nach Paris ein. Nach dem Scheitern dieser Initiativen begannen der Luftkrieg der NATO und der Bodenkrieg zwischen serbischen und albanischen Einheiten.

Bereits Mitte Januar 1999 hatte der Leiter der Kosovo Verification Mission der OSZE, der US-Diplomat William Walker, durch die Interpretation des Todes von 45 Albanern in Račak als serbisches Massaker für eine Verschärfung der Situation gesorgt.6 [7] Als zwei Monate später der Luftkrieg begann, überschlugen sich mit den militärischen Ereignissen auch die verbalen Salven. Deutsche Politiker wie Joschka Fischer oder Gerhard Schröder, die in Fortsetzung der Balkanpolitik von CDU-FDP eine militärische Intervention gegen Belgrad gefordert hatten, bedienten sich dabei besonders einer "Holocaust-Rhetorik". Für ihren ersten Krieg seit 1945 musste die Bundesrepublik nämlich propagandistisch das moralisch stärkste Argument aufbieten, das möglich war: die Berufung auf Verhinderung eines "neuen Auschwitz".

Kritiker befürchteten, dass damit eine Relativierung der NS-Verbrechen und Verdrängung der deutschen Geschichte einhergehen könnte. Die Warnung des grünen Oppositionspolitikers Joschka Fischer 1994, die Kohl-Regierung würde Deutschland "an der Nase, an der humanitären Nase, in den Bosnienkrieg führen"7 [8], war durch ihn als Außenminister Makulatur geworden.

Dass die bundesdeutsche Öffentlichkeit eine besondere Rolle spielte, unterstrich auch NATO-Pressesprecher Jamie Shea: "Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren."8 [9] Für die NATO war die bundesdeutsche Öffentlichkeit richtungsweisend, da das Land als Beleg für die "richtigen" Geschichtslehren galt. Dazu wurde suggeriert, die Alliierten hätten im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler-Deutschland ausschließlich zur Verhinderung der Shoa und nicht auch aus Eigeninteressen gekämpft.

Unter den von Shea für die Formierung der öffentlichen Meinung hoch gelobten deutschen Politikern Schröder, Fischer und Scharping stach besonders letzterer hervor, der u. a. von einem "serbischen KZ" und dem "Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit"9 [10] sprach. Und während Shoa-Überlebende für die Publikation ihrer Kritik an den Auschwitz-Vergleichen Fischers und Scharpings bezahlen mussten10 [11], wetteiferten letztere öffentlich um den bizarrsten Holocaust-Bezug - und erhielten moralische Unterstützung durch Günter Grass, der seine Bewunderung über das politische Agieren Fischers und Scharpings verkündete.11 [12]. Als schließlich auch noch Daniel J. Goldhagen, Autor von "Hitlers willing executioners", in der Süddeutschen Zeitung zur Besetzung und Umerziehung Serbiens nach dem Beispiel Westdeutschlands ab 1945 aufrief12 [13], war die moralische Kriegsrechtfertigung gelungen.

Wie Goldhagen argumentierten zahlreiche Intellektuelle für einen Krieg, der zwar meist mit Bauchschmerzen, nichtsdestotrotz aber in aller Deutlichkeit als einzige Lösung akzeptiert wurde. Mit Ausnahme der taz waren dabei die Interventionsbefürworter in den großen deutschen Printmedien überrepräsentiert, während dezidierte Kriegsgegner in überregionalen Blättern teilweise gar nicht zu Wort kamen oder als Nazi-Revisionisten und "Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde"13 [14] diffamiert wurden.

Mit der gelungenen Rechtfertigungsstrategie des "Kosovo-Krieges" und der erfolgten Umwandlung der NATO vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis waren schließlich die Weichen für das 21. Jahrhundert gestellt: Out-of-Area-Einsätze der NATO werden ebenso wie der Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Grenzen Deutschlands seit 1999 öffentlich nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt.


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