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Alternativer wird's nicht

Der Journalismus ist am Ende. Das weiß mittlerweile jeder. Die altehrwürdigen Medienhäuser kämpfen um ihre (zahlenden) Leser, allüberall wird nur noch manipuliert und gelogen. Zeit für eine echte Alternative! Oder - Moment mal - ernsthaft?!

Wenn es um das Lesen von Zeitungsartikeln geht, bin ich Ausdauersportlerin. Als Abonnentin mehrerer Newsletters wühle ich mich täglich durch zahllose Meldungen, Analysen, Kolumnen, Ansichtssachen. Dabei komme ich im Schnitt auf wöchentlich etwa zwanzig bis dreißig gelesene Texte unterschiedlichster Herkunft in drei Sprachen.

Ich dürfte damit zu den intensiveren Mediennutzern gehören. Wichtig ist mir dabei, neben meinen sieben-acht Standardportalen immer wieder auch andere Webseiten zu durchstöbern, und ich kann aus dem Stand sicher an die zwanzig Medienanbieter aufzählen, deren Artikel ich mehr oder weniger regelmäßig lese. Natürlich kann ich dabei nicht von jeder Zeitung sämtliche Artikel lesen - und das ist auch gar nicht nötig. Ich wähle mir meine Schwerpunkte und lasse mich gerne überraschen. Auf diese Weise habe ich ein breites Spektrum an Themen und Standpunkten dazu.

Mir fehlt nichts. Und hier beginnt das Problem. Wie kann mir nichts fehlen, wenn man doch allenthalben hört, der gute Journalismus sei tot? Und nur durch dieses neue, endlich mal völlig andere Start-up zu retten, das ich bitteschön mitfinanzieren soll?

Ständig stranden derartige Meldungen in meiner Timeline: Jetzt neu, verbessert, revolutionär, noch nie dagewesen! Das neue Medium, auf das wir alle gewartet haben! Das alles anders macht! Endlich seriöse Recherche! Endlich Leserbeteiligung! Endlich die Themen, die uns wirklich interessieren! Und mit der wirklich wahren Wahrheit, die uns vom Mainstream nicht erzählt wird! Mit zehn, zwanzig, fünfzig Euro im Monat bist du dabei!

Und dann erklären mir mehr oder weniger prominente Menschen, warum es nun endlich Zeit für einen Paradigmenwechsel ist, wie schön bunt und "diverse" (sprich: daivöas) das neue Magazin werden wird. Endlich eine echte Alternative! Weg von Fake-News und Beschwichtigungspresse, weg von Populismus und Verzerrung, weg von Clickbait und Seichtigkeit, hin zu Seriosität, Kompetenz, Themendurchdringung und gültiger Welterklärung.

Aber hier stutze ich schon. Schon wieder jemand, der mir die Welt erklärt? Braucht's das? Gefühlsmäßig bin ich nämlich mit meiner Lesekapazität am Anschlag. Ein Blick auf meinen Reader zeigt: Es warten noch 280 Artikel darauf, von mir gelesen zu werden, darunter von Portalen, die ich eher selten nutze. Die meisten sind auf Englisch, aber es gibt auch deutschsprachige Magazine und Blogs, über die ich immer wieder stolpere und die ich für bestimmte Themen konsultiere. Viele dieser Seiten sind auf einen bestimmten Fachbereich spezialisiert und für Menschen, die keine Insider sind, oft nicht leicht zugänglich. Dennoch kann man auch als Außenstehender oft interessante Einsichten gewinnen. Wenn man mit Experten-Artikeln weniger anfangen kann, bleibt einem immer noch der Weg zu den Portalen, die etwas populärwissenschaftlicher schreiben - und auch dort wird oft exzellente Arbeit geleistet. Was hat es also mit all diesen neuen Magazinen auf sich, die voller Mut und Idealismus antreten, es diesmal aber wirklich anders (sprich: besser) zu machen?

Noch eine Plattform mit larmoyantem Befindlichkeitsgeschwätz braucht die Welt nicht mehr

Vielleicht erinnert sich noch jemand daran, wie es mit Vice losgegangen ist - das sei die Zukunft des Journalismus, hieß es damals. Heute ist Vice immer noch da, aber nach Zukunft fühlt es sich nicht an, ganz im Gegenteil. Vice hat heute dieselbe Mischung aus pubertär und altbacken drauf, mit der uns, wenn wir wollen, auch der Spiegel oder der Stern erfreuen. Noch eine Plattform mit larmoyantem Befindlichkeitsgeschwätz braucht die Welt nun wahrlich nicht mehr.

Gefühlte Wahrheiten, persönliche Abrechnungen und windige Pseudowissenschaftsartikel, die sich auf fragwürdige Autoritäten berufen, gibt es zuhauf. Dabei ist gegen munter geschriebene Meinungsverlautbarungen zunächst nichts einzuwenden, aber wirklich anders als der gescholtene Mainstream ist das auch nicht. Wer sich hier also als das neue Fanal für kontroverse Ansichten präsentiert, ist ein bisschen spät dran. Alternativer wird's nämlich nicht mehr. Recht eindrucksvoll belegte das zuletzt die Polemik um die Antisemitismus-Doku, die Arte nicht ausstrahlen wollte. Prompt sprang ein "alternatives Medium" ein und zeigte den geheimnisumwitterten Film für 24 Stunden auf ihrer Seite - ich spreche von der BILD-Zeitung. Wenn die jetzt schon "alternativ" ist, ist das Ende der Fahnenstange erreicht.

Von Compact bis Campact, von den Nachdenkseiten über Das Magazin zu den Salonkolumnisten, von Media Diversified über Breitbart zu Haaretz (wenn wir uns mal nur auf Geschriebenes beschränken und wenn’s auch englischsprachig sein darf), Planschbecken für Perlentaucher gibt es genug und in allen Seichtigkeitsabstufungen. Freilich darf man nicht erwarten, dass sich jeder täglich durch ein mediales Überangebot kämpft, gegen das jede Messie-Wohnung minimalistisch eingerichtet ist.

Der Wunsch nach DEM einen Portal, aus dem man sich umfassend und kompetent informieren kann, ist verständlich und generiert auch immer wieder atemberaubende Crowdfundings-Erfolge, wie zuletzt das Schweizer Projekt "Republik" [1] eindrucksvoll bewies (mit seinem großen R im Logo leicht mit dem ebenfalls erst kürzlich aus der Taufe gehobenen "Rubikon" zu verwechseln): Innerhalb kürzester Zeit fanden sich Investoren, die ein Startkapital von insgesamt 4,2 Millionen Franken aufzubringen bereit waren. Ein Jahresabonnement, gekoppelt an die Mitgliedschaft in der Project-R-Genossenschaft, kostet 240 Franken, dafür gibt es täglich drei Artikel "ohne Schnörkel, mit grossem Herzen", "kompromisslos in der Qualität, ohne Werbung". Journalismus ohne Bullshit, lautet das Motto.

Mit Bullshit ist wahrscheinlich eine politische oder soziale Agenda gemeint, vielleicht auch das Platzieren von Marketinginhalten (gesponserte Reiseberichte, Produkttests und ähnliches). Das klingt natürlich im Grunde sehr gut, und solcherlei Versprechungen haben wir auch in der Vergangenheit immer wieder gehört, z.B. von den Krautreportern - über die noch zu sprechen sein wird.

Journalismus jenseits von Gesinnung und Agenda ist illusorisch

Zugleich ist es illusorisch zu glauben, es könne Journalismus jenseits von Gesinnung und Agenda geben. Sobald es um die Interpretation von Fakten geht (und jetzt tun wir mal so, als wäre die Faktenlage immer so eindeutig, was sie ja keineswegs ist), bewegen wir uns nicht mehr in einer ideologiefreien Zone. Das ist gar nicht möglich. Die journalistische Leistung besteht ja eben im Sichten, Sortieren und Auswerten der Fakten. Dass dieser Vorgang so objektiv wie möglich zu erfolgen hat, steht außer Frage. Aber er kann trotzdem nicht gänzlich ohne ideologisch gefärbte Deutung erfolgen.

Schlimm ist das eigentlich nicht. Der Traum vom ideologiefreien Journalismus ist in Wirklichkeit keiner. Per se ist es nämlich nicht schlecht, wenn jemand Haltung zeigt. Allerdings sollte es eine reflektierte, kluge, besonnene Haltung sein, gut argumentiert und nachvollziehbar erläutert. Vor allem aber sollte es eine offengelegte Haltung sein. Sich als neutral darzustellen, während man durchaus gewisse Interessen und Weltanschauungen vertritt (üblicherweise natürlich diejenigen der Geldgeber, die hinter dem Medienunternehmen stehen), ist inakzeptabel. Sobald aber eine gewisse Haltung etabliert und vertreten wird, kann ich als mündige Leserin dazu Position beziehen.

Häufig ärgere ich mich, wenn die Argumentation eines Redakteurs meinen eigenen Ansichten widerspricht. Wenn der Artikel aber mit Sorgfalt erarbeitet ist, kann ich trotzdem aus den präsentierten Fakten und Zusammenhängen meine eigenen Schlüsse ziehen, ohne zwangsläufig zu denselben Ergebnissen zu gelangen. Mehr kann man sich von gutem Journalismus nicht erwarten.

Eine gewisse kritische Eigenleistung muss dem Publikum zugemutet werden. Wer die Antisemitismus-Doku auf der Seite der BILD angesehen hat, konnte sich nun selbst überlegen, warum Arte das nicht senden wollte, warum die BILD das hingegen sehr wohl senden wollte und warum beides doch auch einiges über das Spektrum der Medienlandschaft aussagt, in der wir uns bewegen. Arte hat Haltung gezeigt. Solange diese Haltung sichtbar ist und im Idealfall nachvollziehbar gemacht wird, ist auch das Nicht-Senden, das Nicht-Berichten vertretbar (allerdings auch schwieriger zu kommunizieren - über etwas zu reden, was man nicht zeigen will, bedeutet, es ja doch irgendwie zeigen zu müssen).

Problematisch wird es, wenn der Eindruck entsteht, dass Dinge verschleiert oder verzerrt werden, und hier muss man genau hinschauen. Medienkritik - auch dazu sind Medien da, und auch dazu brauchen wir keine neuen Alternativen: von Übermedien über MEEDIA bis mimikama, von correctiv bis telepolis - wir sind versorgt. Zu glauben, eine neue Plattform könne nun endlich den völlig anderen Journalismus generieren, ist im besseren Fall naiv, im schlechteren Fall bösartig: Dann nämlich wird dem gesamtem Berufsstand unterstellt, aus einem lahmen Haufen manipulierter und manipulierender Kasperln zu bestehen.

Dabei zeigen gerade die vermeintlich "neuen und ganz anderen" Medien, welche Qualität das hat, was wir so nonchalant als "Mainstreammedien" abtun. Wer beispielsweise die Entwicklung der Krautreporter mitverfolgt hat, muss sich fragen, was dieses mit großem Getöse angetretene Kollektiv denn nun so fundamental anders macht als die Kollegen vom Schweizer Tagesanzeiger, vom österreichischen Standard, von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung oder der ZEIT. Der Ton ist vielleicht manchmal flapsiger und jugendlich-forsch, aber wesentliche Unterschiede sucht man vergeblich. So genau kann man das als Gelegenheitsleser gegenwärtig freilich nicht mehr abschätzen, die meisten Krautreporter-Artikel sind nämlich mittlerweile hinter einer Bezahlschranke verschwunden.

Guter Journalismus kostet Geld

Hier zeigt sich eine weitere Problematik des guten Journalismus: Er kostet Geld. Recherchen sind aufwendig. Zusammenhänge komplex. Und nicht jeder, der gegen "das Establishment" (das System, die da oben, covfefe ...) wettert, besitzt die intellektuelle Tiefe und sprachliche Raffinesse, die nötig sind, um aus einem emotionalen Dampfablassen ein gesellschaftskritisches Denkstück zu machen.

Dass immer mehr Zeitungen kostenpflichtige Premiumbereiche einrichten, ist nachvollziehbar, für die Rosinenpicker unter uns Leserinnen allerdings fatal. Ich hatte eingangs meine tägliche Leseroutine erwähnt. Sie gleicht heute einer Slalomfahrt - viele Artikel, die ich gerne läse, brechen nach wenigen Zeilen ab. Nun kann ich nicht für jede Zeitung ein eigenes Abo abschließen, nur weil ich monatlich um die fünf Artikel daraus lese. Mein Traum wäre eine Art virtuelle Bibliothek, bei der ich für einen fixen Betrag im Monat eine bestimmte Anzahl von Artikeln - von jeglichem Portal! - lesen könnte. Denn dass einem guter Journalismus auch was wert sein sollte, versteht sich für mich von selbst.

Leider geht der Trend im Moment eher in die andere Richtung - während sich die etablierten Zeitungen mit Paywalls abschotten, schießen schon die nächsten ambitionierten Start-ups aus dem Boden und versprechen, es diesmal aber wirklich besser zu machen. Die dahintersteckenden Geldgeber freilich werden nicht unbedingt offengelegt (die finanzielle Beteiligung der abonnierenden "Crowd" allein ist nicht ausreichend, soviel sei jedenfalls verraten).

Wer als Leser ein breites Spektrum zur Verfügung haben möchte, hat aber nichts von dieser Einzelkämpfermentalität. Ich will nicht DAS eine Medienportal, das mich rundum versorgt. Es reicht mir schon, dass Facebook nur zu gerne diese Rolle übernehmen würde. Ich will vielfältigen Journalismus aus allen Richtungen und in allen Farben. Gesinnung stört mich nicht. Wenn ich die NZZ aufschlage, weiß ich, wofür diese Zeitung steht, und dasselbe gilt für Russia Today. Natürlich setzt eine solche Gelassenheit voraus, dass man erkennt, dass der Postillon oder die Tagespresse Satire bieten (was kürzlich dem britischen "Guardian" zum Verhängnis [2]wurde) und die "Netzfrauen" sich besser in "Hetzfrauen" umbenennen würden.

Das Stichwort ist Lesekompetenz und damit einhergehend: Medienkompetenz. Genau da hakt es aber häufig. Lese- und Medienkompetenz bedeutet neben einer gewissen Gewandtheit im Umgang mit Texten und Informationen eben auch, dass man offen dafür ist, unter Umständen nicht das zu hören, was man hören möchte. Sprich: Wer sein vorgefasstes Urteil in einem Artikel nicht widergespiegelt findet, kann wie oben geschildert mit Offenheit und Gelassenheit darauf reagieren. Oder aber mit Wut, Abscheu, Häme und der guten alten Lügenpresse-Keule.

Bei vielen ist die Bereitschaft, nicht immer direkt vom Schlimmsten auszugehen, nicht sehr hoch. Da ist von einer transatlantischen Verschwörung die Rede oder von einem Kreml-Marionettentheater, "alle" sind "von der Pharmaindustrie" oder sonstigen dunklen Mächten "gekauft", kurz, der gute Journalismus ist tot. Dass es aber ausgerechnet Journalisten der ungeliebten Leitmedien waren, die in den vergangenen Jahren wertvolle investigative Aufklärungsarbeit geleistet und beispielsweise mit Edward Snowden den NSA-Skandal oder die Cum-Ex-Affäre ans Tageslicht gebracht haben, mag hier nicht so recht ins Bild passen.

Statt nach alternativen Medien zu rufen, sollten wir uns mit den Voraussetzungen für guten Journalismus beschäftigen

Damit die Macher der Medien ihrer Arbeit seriös nachgehen können, müssen ihnen entsprechende Arbeitsbedingungen und Löhne geboten werden. Auch Journalisten müssen essen. Es kann daher nicht sein, dass Journalismus zur brotlosen Kunst verkommt (warum Kunst brotlos sein soll, darüber könnte man ein anderes Mal genauer nachdenken).

Es gibt viele motivierte, idealistische, anpackende Vertreterinnen der schreibenden Zunft, die am Existenzminimum herumkrebsen. Wer selbstausbeuterisch und unter Zeitdruck Artikel am laufenden Band produzieren soll, wer im Namen der Quote reißerische Titel erfinden und Klicks generieren muss, wer zu Emotainment, Phrasensprache und Verkürzungen gezwungen ist, darf nicht gescholten werden, wenn am Ende die Qualität nicht mehr stimmt. Hier sind auch wir Leserinnen gefordert.

Solange wir bereitwillig die Schmuddelschlagzeilen glauben, die zu Dumpinglöhnen arbeitende Jugendliche in Mazedonien erfinden, solange wir unsere Gratismentalität nicht überdenken und es in Ordnung finden, dass kompetente Menschen einen Brotberuf brauchen, um sich ihr journalistisches Engagement leisten zu können, solange wir nicht bereit sind, uns länger als drei Minuten auf einen Text, ein Video einzulassen, drehen auch wir an der Abwärtsspirale des Qualitätsjournalismus. Daran wird auch dieses aufregende neue Start-up nichts ändern - irgendwann wird es den Weg jedes Mediums gehen: Es wird dem Geld folgen. Und es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unser Geld sein.

Vielleicht wird's ja doch noch was mit meinem Traum von der Medien-Bibliothek für zahlende Kunden. Da würde ich sofort mitmachen - gegen Medieneinfalt hilft Medienvielfalt, und diese zu nutzen, obliegt jedem Einzelnen von uns. Letztlich gilt wie immer: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3746042

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.republik.ch/crowdfunding
[2] http://diepresse.com/home/kultur/medien/5219322/Guardian-faellt-auf-die-Tagespresse-herein