Alternativlosigkeit ist eine Religion
- Alternativlosigkeit ist eine Religion
- "Alternativlos" - zu Recht Unwort des Jahres 2010?
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Was verbindet die Kreuzigung Christi mit dem Euro-Rettungsschirm?
Von der Kreuzigung Christi und dem Euro-Rettungsschirm wird Gesundung und Erlösung erhofft. Aber beide gelten bei ihren Befürwortern auch als "alternativlos", was heißt: Sie sind indiskutable Vorgänge. Und sie sind indiskutabel, weil es zu ihnen keine zu debattierenden Gegenvorschläge gibt. Warum auch über etwas streiten, wozu es keine Alternative gibt?
Der Euro-Rettungsschirm als alternativlose Basis der Schuldenpolitik
Im September 2011 hatten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages über eine Erhöhung der Mittel für die EFSF (European Financial Stability Facility) von 440 auf 780 Milliarden Euro abzustimmen. Der Gesetzentwurf 17/6916 bot nur zwei Seiten Erläuterung. Auf Seite 2 fand sich unter Punkt "C" das magische Wort: "Alternativen: keine"
Bemerkenswert auch die Aussage einige Sätze später, dass die mittelbaren Auswirkungen des Beschlusses "nicht bezifferbar" seien. Wie kann ein Beschluss alternativlos sein, dessen Auswirkungen nicht einmal berechenbar sind? Da es aber zu ihm bekanntlich keine Alternativen gibt, kann man sich in der Tat den lästigen Vergleich von Szenarien sparen.
Erste Lehre: Alternativlosigkeit verlangt den tiefen Glauben von allen Beteiligten, dass die einzige Lösung zugleich auch die richtige ist. Hätten Gerhard Schröder und Joschka Fischer nicht bei der Beurkundung ihrer ersten, zumindest aber ihrer zweiten Ehe wissen können, dass diese doch kein alternativloser und daher möglicherweise kein ewiger Bund fürs Leben ist?
Die Kreuzigung Jesu als alternativlose Basis des Christentums
Die von Paulus und den Evangelisten überlieferte Version, wonach Jesus gekreuzigt wurde und von den Toten auferstanden sei, war – so steht es im Korintherbrief – dem "natürlichen Menschen" (Luther) von Anfang an unverständlich. Brauchte die christliche Lehre wirklich die von Gott zugelassene Kreuzigung, um als "Christentum" mit dem USP der Auferstehung von den Toten inmitten der Mysterien- und Wunderreligionen wettbewerbsfähig zu werden?
Die Kreuzigungsgeschichte blieb allerdings nur bis 1945 alternativlos. In diesem Jahr fand ein Bauer auf der Flucht vor Blutrache in Nag Hammadi im oberen Niltal 47 in koptisch abgefasste Schriften.
Sie handelten vom Wirken eines gewissen Jesus und stammten – im Gegensatz zu den vier Evangelien – nachweislich aus dem 2. Jahrhundert. Unter diesen Codices, von denen C.G. Jung einen auf dem Kairoer Antiquitätenmarkt erwarb (Codex II von Nag Hammadi), befindet sich auch das "Thomasevangelium". Dort sind die Weisheitssprüche von Jesus, "dem Lebendigen" versammelt, in denen es keine Kreuzigung und Auferstehung gibt. Sie waren im 2. Jahrhundert derart brisant, dass sie in einer Urne vergraben werden mussten.
Bis heute verweigern alle Kirchen die Aufnahme des Thomasevangeliums unter die heiligen Schriften des Christentums. Dabei müsste zumindest die Katholische Kirche das Ende der blutigen und bis heute unverständlichen Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschichte nicht fürchten: Mit der ohnehin viel beliebteren Muttergöttin Maria, dem Papst und ihren lokal aktiven Heiligen kann sie zur Not auch ganz ohne Christus auskommen.
Für die Evangelische Kirche aber erscheint das Festhalten an den Wundergeschichten des erst im 9. Jahrhundert zusammengestellten Neuen Testaments existentieller. Es sind deshalb vor allem evangelische Theologen, die die Aufnahme des ältesten Evangeliums in das Neue Testament bis heute verhindern.