zurück zum Artikel

Am Ende des Kapitalismus: Ein neues Ausmaß der Unternehmensprofitgier?

Andreas von Westphalen

Bild: Ausschnitt eines Filmplakats von 1925, Metro-Goldwyn-Mayer

Ein Phänomen beschäftigt die Wirtschaftswissenschaft: Die Gierflation. Wie viel Unersättlichkeit der Unternehmen verbirgt sich in der aktuellen Inflation? Was wäre ein Mittel dagegen?

"Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus", lautet der seit Jahren bekannte Ausspruch des marxistischen Philosophen Frederic Jameson. "Ist der Kapitalismus tot? [1]", fragt nun der Global Strategist der Großbank Société Génerale [2], Albert Edwards. Seine Ausgangsvermutung: "Wir stehen möglicherweise vor dem Ende des Kapitalismus."

Sein konkreter Vorwurf lautet:

Nachdem ich über 40 Jahre im Finanzwesen gearbeitet habe, dachte ich, dass mich nicht mehr viel überraschen könnte. Dennoch finde ich das noch nie dagewesene Ausmaß der Unternehmensgier in diesem Wirtschaftszyklus erstaunlich. Die jüngste Veröffentlichung der Daten zu den gesamtwirtschaftlichen Gewinnen in den USA war ein weiterer Schock für mein sinkendes Vertrauen, dass das kapitalistische System so funktioniert, wie es sollte.

Albert Edwards

Seine Erklärung für die vermutete Gierflation:

"Die Unternehmen in den Industrieländern (insbesondere in den USA) haben unter dem Vorwand steigender Rohstoffkosten die Preise weit über den Kostendruck hinaus in die Höhe getrieben, um ihre Gewinnspannen auf ein noch nie dagewesenes Niveau auszuweiten. Die Unternehmen haben erst die Pandemie und dann den Krieg in der Ukraine genutzt, um 'zu profitieren'."

Krise als Chance

Eigentlich sind Preisabsprachen verboten und in der Marktlogik würden überzogene Preissteigerungen einzelner Unternehmen umgehend durch einen Konkurrenten bestraft, der seinen Marktanteil ausweitet, indem er dasselbe Produkt beziehungsweise dieselbe Leistung preiswerter anbietet. Dadurch würden die überhöhten Preise zwangsläufig wieder fallen und so schützt der Markt den Konsumenten. Nach Albert Edwards geschieht dies aktuell aber nicht mehr. Er schreibt:

Die Unternehmen können ihre Preise ohne Risiko erhöhen, um ihre Gewinnspannen zu schützen, weil sich die Wettbewerber implizit darauf geeinigt haben, dass sie auf Kostenschocks mit der Weitergabe von Kosten reagieren. Tägliche Nachrichten über Probleme in der Versorgungskette und hohe Rohstoffkosten tragen in dieser Phase nicht nur zur Entstehung einer impliziten Preisvereinbarung zwischen den Unternehmen bei, sondern können auch bei den Kunden Verständnis für höhere Preise wecken und so die Nachfrage weniger elastisch machen.

Albert Edwards

Immer wieder wurde das Phänomen der gigantischen Unternehmensgewinne während der Corona-Krise und jetzt während des Ukraine-Krieges thematisiert. Die FAZ spricht von Rekordgewinnen trotz Krise [3].

Gerade Ölfirmen können sich über sprudelnde Gewinne [4] freuen. Auf der anderen Seite herrschen in Deutschland Reallohnverluste in historischem Ausmaß [5].

In Großbritannien konnten die 350 größten an der Londoner Börse notierten Unternehmen [6] die durchschnittlichen Gewinnmargen von 5,7 Prozent im ersten Halbjahr 2019 auf 10,7 Prozent im ersten Halbjahr 2022 fast verdoppeln. In den USA jubelten die Unternehmen in der letztjährigen Fortune 500-Liste über einen Rekordgewinn von 1,8 Billionen US-Dollar [7] im vergangenen Jahr.

Das Phänomen von extremen Unternehmensgewinnen einerseits und hoher Inflation sowie Lohnverluste andererseits ist mehr als bemerkenswert. Bereits vor einem Jahr betonte Ralf Streck auf Telepolis, dass sich die explodierenden Spritpreise nur durch Gier erklären ließen [8].

Fast zeitgleich hatte Andrew Bailey, Gouverneur der Bank of England, zwar betont, er sehe keinen Hinweis auf exzessive Gewinne, die auf eine Gierflation hindeuten würden, gleichwohl war er aber so beunruhigt, dass er in einem Interview auf BBC Unternehmen ausdrücklich bat, Zurückhaltung walten zu lassen [9].

Paul Donovan, Chefökonomist des UBS Wealth Management, ging zur gleichen Zeit einen Schritt weiter, indem er konstatierte [10]:

"Ein Großteil der derzeitigen Inflation ist auf die Ausweitung der Gewinne zurückzuführen."

Im Herbst warnte [11] dann der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich eindringlich vor dem Phänomen der Gierflation und riet:

Es sind die Gewinne, nicht die Löhne, die kontrolliert werden müssen.

Aber bei dem Kampf gegen die grassierende Inflation konzentrieren sich die Zentralbanken [12] nach wie vor auf steigenden Nominallöhne, die angeblich aufgrund der Lohn-/Preisspirale eine höhere Inflation zu verursachen drohen.

Welch' geradezu absurdes Ausmaß diese Fokussierung annehmen kann, lässt sich wunderbar in einer unterhaltsamen Diskussion [13] zwischen Jon Stewart und dem ehemaligen Chefökonomen der Weltbank Larry Summers erkennen.

Untersuchungen und Studien

Es kann kaum überraschen, dass der massive Vorwurf des Global Strategist der französischen Traditionsbank hohe Wellen geschlagen hat.

Die Financial Times hat die Gewinne in verschiedensten Bereichen untersucht und kommt zu dem vorsichtigen Schluss [14], es gebe "nur schwache Anzeichen dafür, dass die Unternehmen insgesamt im Vergleich zu den historischen Normen zu hohe Gewinne erzielt haben".

Allerdings betonen sie die Schwierigkeit einer solchen Analyse, weshalb sie ausdrücklich die Leser um Mithilfe und Korrektur der Datenauswertung bitten.

Ende Februar hatten bereits die Wirtschaftswissenschaftler Isabella Weber und Evan Wasner ihre Studie Sellers’ Inflation, Profits and Conflict: Why can Large Firms Hike Prices in an Emergency? [15] veröffentlicht, auf die sich auch Albert Edwards beruft.

Ihr Ergebnis betont, dass es sich bei den hohen Unternehmensgewinnen während der Corona-Krise um implizite Preisabsprachen handelt und der Markt offensichtlich versagt hat.

Die Covid-19-Inflation in den USA sei in erster Linie auf "die Fähigkeit von Unternehmen mit Marktmacht (zurückzuführen), die Preise zu erhöhen. Solche Unternehmen sind zwar Preisgestalter, aber sie erhöhen die Preise nur, wenn sie erwarten, dass ihre Konkurrenten dasselbe tun. Dies erfordert eine implizite Vereinbarung, die durch sektorweite Kostenschocks und Versorgungsengpässe koordiniert werden kann".

Ende von Gierflation oder des Kapitalismus

"Das Ende der Gierflation muss unbedingt kommen. Andernfalls sehen wir vielleicht dem Ende des Kapitalismus entgegen", warnt Albert Edwards. Denn Gierflation ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern hat auch massive soziale Auswirkungen:

In einer Zeit, in der der soziale Zusammenhalt bereits an den Rändern ausfranst, denke ich, dass der Anblick von Unternehmen, die in einer Krise außergewöhnliche Gewinnmargen erzielen, die sozialen Unruhen nur noch verstärken kann. Dies ist ein wichtiges Thema für politische Entscheidungsträger, das einfach nicht länger ignoriert werden kann.

Albert Edwards

Inwiefern die Abschaffung der Übergewinnsteuer in Deutschland [16] ab Juni der richtige Weg hierzu ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Albert Edwards gibt einen anderen Ratschlag: Preiskontrollen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-8949316

Links in diesem Artikel:
[1] https://insight-public.sgmarkets.com/alternative-view/is-capitalism-dead
[2] https://www.societegenerale.com/fr
[3] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/von-wegen-krise-2022-machten-deutsche-unternehmen-rekordgewinne-18560024.html
[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/oelfirmen-rekordgewinne-2022-101.html
[5] https://www.telepolis.de/features/Reallohnverluste-wie-nie-zuvor-in-Deutschland-7393840.html
[6] https://www.theguardian.com/business/2022/apr/27/inflation-corporate-america-increased-prices-profits
[7] https://fortune.com/2023/04/05/end-of-capitalism-inflation-greedflation-societe-generale-corporate-profits/
[8] https://www.telepolis.de/features/Nur-Spekulation-und-Gier-erklaeren-die-hohen-Spritpreise-6585002.html
[9] https://www.theguardian.com/business/2023/mar/24/bank-of-england-boss-urges-firms-to-hold-back-price-rises-or-risk-higher-interest-rates
[10] https://www.theguardian.com/business/2022/apr/27/inflation-corporate-america-increased-prices-profits
[11] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/sep/25/inflation-price-controls-robert-reich
[12] https://insight-public.sgmarkets.com/alternative-view/are-record-margins-greedflation-or-just-plain-price-gouging
[13] https://www.youtube.com/watch?v=tU3rGFyN5uQ
[14] https://www.ft.com/content/e1c6b39d-00ca-4976-bf10-0034727f9272
[15] https://scholarworks.umass.edu/econ_workingpaper/343/
[16] https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/uebergewinnsteuer-die-grossen-laesst-man-laufen-li.334450