Am Privateigentum zerschellt die Utopie
Das Jahr 2020 und die Utopie VI
Bei fast allen utopischen Entwürfen und praktischen Versuchen zieht sich ein Merkmal wie ein roter Faden hin: Die Abwesenheit von Privateigentum an Produktionsmitteln. Quasi wie selbstverständlich sind die utopischen Gesellschaften auf kommunistischer Basis errichtet: Die Produktion ist in der Regel gemeinwirtschaftlich organisiert, das Privateigentum ist abgeschafft. Utopie ist gleich Gemeinwirtschaft. Und damit Lichtjahre von Jahr 2020 entfernt.
Teil I: Was von der Zukunft der Vergangenheit geblieben ist
Teil II: Sex und Utopie
Teil III: Essen als die neue Religion
Teil IV: Die Kommune war vor allem gestern
Teil V: Witzig: Mit 45 in die Rente
In Utopia gibt es offensichtlich kein Privateigentum. Im Ersten Buch lässt Morus seinen Protagonisten Hythlodeus sagen, dass nur ein einziger Weg zum Wohle des Staates führe: "die Verkündigung der Gleichheit des Besitzes, die doch wohl niemals durchgeführt werden kann, wo die einzelnen noch Privateigentum besitzen." Solange nicht das Eigentum aufgehoben sei, werde der weitaus beste und größte Teil der Menschheit in Armut und Plackerei leben. Zwar könne durch Gesetze dieser Zustand abgeschwächt und gemildert werden, überwunden werden könne er nicht.
Der Frühsozialist Robert Owen hält das Privateigentum (neben der Ehe und der Religion) für einen der Gründe allen Übels. Seine Abschaffung ist die Voraussetzung für eine menschliche Gesellschaft.
Bei Bellamy ("Ein Rückblick aus dem Jahre 2000") ist das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft. Anstelle der privaten Unternehmen, der Konzerne und Trust, steht nun ein einziger nationaler Riesenbetrieb, der im Sinne der Allgemeinheit wirtschaftet und der vom Präsidenten geleitet und wie eine Armee geführt wird. In diesem Arbeitsheer besteht Dienst- bzw. Arbeitspflicht für die Bürger. Der Staat sorgt auch für alle Bedürfnisse seiner Bürger, angespartes Geld als Kapital existiert ebenso wenig wie Privatverkäufe, ja Handel überhaupt. Privatbesitz an Dingen wie Grundstücke oder Häuser scheint nicht zu existieren.
August Bebel (1879) steht für die marxistisch ausgerichtete Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts und seine theoretische Grundlage ist der "Wissenschaftliche Sozialismus". Für ihn war klar, dass der Kapitalismus hinweggefegt und durch eine neue Gesellschaft ersetzt werden würde. Deren erste Grundlage ist die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die "Expropriation der Expropriateure": "Die Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum schafft der Gesellschaft die neue Grundlage."
Der Kibbuz beruht auf dem Prinzip der Gütergemeinschaft. So heißt es in § 3 der Statuten der Vereinigten Kibbuzbewegung: "Der Kibbuz ist eine freie Vereinigung von Personen zum Zwecke der Errichtung, Integration und Bewirtschaftung einer kollektiven Siedlung, die nach den Prinzipien von gemeinschaftlichen Eigentum an Grundbesitz, eigener Arbeit, Gleichheit und Zusammenarbeit in den Bereichen der Produktion, des Konsums und der Erziehung organisiert ist." Privater Besitz an Geldguthaben oder Immobilien ist nach diesen Prinzipien nicht erlaubt.
Eigentum existiert auf Anarres ("Planet der Habenichtse") nur in Form von persönlicher Habe in geringem Ausmaß. Darüber hinaus gibt es keinen Privatbesitz. Das Grundprinzip der Gesellschaft ist das der Gleichheit und Solidarität. "Wir haben nichts als uns", bringt Shevek es auf den Punkt. Egoismus gilt als verwerflich und der Begriff dient als Schimpfwort. Ähnlich der Begriff des "Profiteer", des Gewinnemachers. Das Wort "haben" ist quasi aus dem Sprachschatz getilgt und durch "teilen" ersetzt.
Die meisten hier vorgestellten fiktionalen und real existierenden Utopien berufen sich auf eine Gesellschaft, in der das Privateigentum verschwunden oder in den Hintergrund getreten ist. Dem Privatbesitz wird der Gemeinschaftsbesitz gegenübergestellt. Der Einzelne ist aufgehoben in der Gemeinschaft.
Die Zukunft des Privateigentums - in den Entwürfen und Praxisversuchen besteht sie in dem Verschwinden desselben. Was für ein Unterschied zur realen Entwicklung in der Welt! Wahrscheinlich befand sich noch nie so viel Privateigentum respektive Reichtum in so wenigen Händen - global gesehen. So präsentierte die Menschenrechtsorganisation Oxfam 2017 einen Bericht, wonach acht Milliardäre - darunter Bill Gates (Microsoft), Mark Zuckerberg (Facebook) und Jeff Bezos (Amazon) - über ebenso viel Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung - also 3,5 Millarden Menschen. In Deutschland besitzt ein Prozent der Bevölkerung ein Drittel des gesamten Vermögens.
Wohin die Pfade der Utopie ansonsten auch konkret führten - beim Privatbesitz ging die Welt den entgegengesetzten Weg. Das gilt auch für den Sozialstaat, der in der Phase des Neoliberalismus zurückgebaut wurde, wodurch die soziale Ungleichheit zunahm. Als Fazit lässt sich festhalten, dass jene Bereiche der Realität am weitesten von der Utopie entfernt sind, die am Kern der Gesellschaftsordnung liegen, also um die Produktionsverhältnisse herum gruppiert sind. Das Zentrum bildet dabei das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Produktion von Waren.
Um diesen Kern herum gruppieren sich die Phänomene der Arbeitsorganisation, des Lohnes, des Konsums und der Verteilung. Sie unterliegen der Schwerkraft des Privateigentums, die sich in der Differenz der heutigen Verhältnisse zu den utopischen Entwürfen ausdrückt. Bereiche, die von diesem Kern weiter entfernt sind wie Sexualität, Kleidung oder Ernährung geben sich in Hinsicht auf die utopische Intension neutraler oder haben sich ihr angenähert. 2020 ist: Das Privateigentum bildet wie die Sonne den Mittelpunkt des Systems, während an dessen Rändern (Uranus, Pluto) sich davon relativ unabhängige Lebensformen herausbilden. Und dazwischen treiben die utopischen Manuskripte der Vergangenheit dahin