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Am Puls Amerikas ...!

Foto: Ramon Schack

Ramon Schack hat den Rust Belt besucht

Viktorianische Holzhäuser neben Industriebauten aus dem 19. Jahrhundert, kleine Geschäfte, Restaurants und Bars, Fußgänger, die vor Schaufenstern verweilen.

Ohio City nennt sich dieser Stadtteil von Cleveland, vor dem Besucher früher gewarnt wurden - mit dem Begriff "Inner City Area", der in den USA lange Zeit als Synonym für Gewalt, Gefahr, Kriminalität und Niedergang galt. Doch hier in Cleveland lässt sich an diesem Sommertag ein Trend beobachten, der in den USA immer stärker wird, nämlich die Revitalisierung von Downtowns und Midtowns - der innerstädtischen Quartiere, die jahrzehntelang dem Niedergang und dem Verfall preisgegeben waren, als Amerika noch von Suburbia träumte, von lauter kleinen Einfamilienhaus-Nachbarschaften, die sich immer weiter ausgedehnt haben.

Anfangs war das auch so gewollt. Ein eigenes Häuschen gehörte zur Grundausstattung des US-Mittelstands, jeder wollte eins haben - und die Automobilindustrie war erpicht auf möglichst viele achtspurige Super-Highways, mit denen man einst, in den 1940er und 1950er Jahren, der Welt zeigen wollte, wie praktisch so ein Auto ist.

Inzwischen wurden die Thesen des französischen Soziologen Henri Lefebvre wiederentdeckt. Der prägte Ende der 1960er Jahre den Begriff der "verdichteten Unterschiedlichkeit" - die Vorstellung, dass in einer idealen Stadt möglichst viele verschiedene Menschen zusammenkommen. Ob reich oder arm, ob bürgerlich oder alternativ: Es findet ein konstanter Austausch statt, es werden gesellschaftliche Fragen auf engstem Raum ausgehandelt.

Schrumpfende Stadt

Cleveland war lange Zeit eine "shrinking city", eine der schrumpfenden Städte im Mittleren Westen. Die alten Metallindustrien konnten mit den billigeren Produktionen in Schwellenländern nicht mehr konkurrieren - und Cleveland gehörte in den 1970er Jahren zu den Städten, in denen eine Art Monokultur herrschte. Man hatte sich hier voll auf die Automobilindustrie verlassen, etliche Zulieferbetriebe hingen von den großen Fabriken ab, die ganze ökonomische Infrastruktur war auf dieses Branchenmonopol hin geeicht.

Wenn eine Stadt schrumpft, gehen die Möglichkeiten zu einem Austausch quer durch die Milieus und Schichten verloren. Es gibt keine Durchlässigkeit mehr, das soziale Gefüge kippt in eine traurige Einseitigkeit, die Stadt stirbt.

Ohio City liegt am Cuyahoga River - einem Fluss, der Cleveland durchschneidet und dort in den Lake Erie fließt. 1969 stand der Fluss in Flammen, aufgrund der damaligen Verschmutzung des Stromes. Ein Ereignis, welches Randy Newman 1972 in seinem Song Burn On [1]verarbeitete, indem er Cleveland zynisch als "City of Light, City of Magic" titulierte und sang [2]: "The Cuyahoga River runs smoking through my dreams."

Einige Jahre später wurde Cleveland sogar als "The mistake on the lake", als "der Irrtum am See" aufgrund des wirtschaftlichen Niederganges der Stadt im Herzen des "Rust Belt", des Rostgürtels der USA, geschmäht, flankiert von Rassenunruhen und der Abwanderung vor allem weißer Bevölkerungsschichten in den aufstrebenden Süden und vor allem Südwesten der USA.

Rückkehrer, die es satt haben, "in einem Schuhkarton zu leben"

"Die Abwanderung ist gestoppt, es kehren sogar einige wieder zurück!", berichtet Susan, Versicherungsmaklerin, die seit drei Jahren wieder in ihrer Geburtsstadt Cleveland ansässig ist.

"Irgendwann hatte ich es in New York City nicht mehr ausgehalten und wollte mehr, als nur in einem Schuhkarton in Manhattan zu leben. In Cleveland kann man noch recht günstig Wohnungen kaufen, das Leben ist entspannter, die Menschen hier im Mittleren Westen sind freundlicher, nicht nur auf der Jagd nach dem schnellen Dollar wie an der Ostküste", fährt die junge Frau fort.

"Fly-Over-States"

Susan nimmt an einer Führung durch die Market Garden Brewery teil - einer Brauerei, die angeblich das schmackhafteste Bier der Region herstellt. "Sehen Sie", ruft Susan aus und deutet auf einen Flyer, der verkündet, dass die Brauerei der offizielle Sponsor des diesjährigen Gay Pride Festivals ist: "So etwas wäre früher undenkbar gewesen. Der Mittlere Westen ist nicht mehr die Heimat der Hinterwälder und Rednecks, wie die Leute an den Küsten glauben, die uns ja auch Fly-Over-States nennen, die ständig urteilen über uns, ohne mal vorbeizuschauen!"

Zum Beweis schießt sie ein Foto mit ihrem Smartphone - um dieses ihren Freunden in New York zu senden.

Nur wenige Gehminuten entfernt befindet sich der West Side Market, eine 1840 eröffnete Markthalle, an deren Ständen sich noch immer die Einwanderungsgeschichte der Stadt ablesen lässt. "Wir leben seit 1989 in den Staaten!", berichtet Nour, die im Libanon geboren wurde und mit ihrem Mann levantinische Lebensmittel anbietet. "Cleveland ist OK, die Menschen sind nett, aber irgendwie ist man hier doch weiter weg von der Welt, als zum Beispiel an der Ostküste", gibt sie zu bedenken. Von Islamfeindlichkeit hat sie nichts zu spüren bekommen, auch wenn Donald Trump im Sommer des vergangenen Jahres in Cleveland zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekürt wurde.

Foto: Ramon Schack

"Oh Boy", da war was los in Cleveland, erzählt Mike, Soziologie-Student und linker Aktivist, der am Stand eines ungarischen Metzgers jobbt. "Cleveland war immer eine demokratische Hochburg, aber überall im Mittleren Westen hat Trump die meisten Stimmen erhalten. Nicht weil hier alle Rassisten wären, sondern weil man uns in Washington, New York und LA vergessen hat", führt er aus, während er Salami sortiert. "Der Turbo-Kapitalismus hat Trump geschaffen. Aber, weißt Du was? Jetzt will niemand mehr Trump gewählt haben, die Leute schämen sich."

Ein junger Lieferant im Blaumann behauptet, auf Trump angesprochen, der amerikanische Traum würde nicht mehr existieren. Er sei noch in einer "guten, weißen Nachbarschaft" aufgewachsen, sein Vater besaß drei Autos, er selbst könne sich nur noch einen Wagen leisten. Ob er Trump gewählt habe, darauf gibt er keine Antwort.

"New American City"

Ende der 1990er Jahre, während des sogenannten Clinton-Booms, wurde Cleveland mit dem Titel "New American City" geschmückt - basierend auf einem Investitionsprogramm, welches die geschundene Stadt in einen Hotspot des High-Tech-Zeitalters verwandeln sollte. Ob dieses gelang, ist fraglich. Aber aus jener Zeit stammen Bauten und Einrichtungen, von denen Cleveland heute noch profitiert, vor allem im Bereich Tourismus. Die Rock and Roll Hall of Fame beispielsweise, für knapp 100 Millionen Dollar an den Ufern des Lake Erie errichtet, in Form einer gläsernen Pyramide, die im Wasser zu schwimmen scheint.

Der Standort Cleveland wurde deshalb gewählt, weil der Begriff "Rock ’n’ Roll" 1951 von dem aus Cleveland stammenden Discjockey Alan Freed erfunden wurde, in dessen berühmter nächtlicher Radiosendung The Moondog Rock & Roll House Party [3]. Es lohnt ein Besuch dieser Weihestätte der westlichen Jugendkultur, in der man nicht nur Artefakte und Videos präsentiert bekommt, sondern auch eine ansehnliche Darstellung der Entwicklungsgeschichte dieser Subkultur - inklusive Ausstellungsbereichen, die sich den Themengebieten "New Journalism" widmen.

"Die Menschen zögern heute, ihre politische Meinung zu äußern"

Vor der "Rock and Roll Hall of Fame" blättert Wachmann Michael während seiner Mittagspause in der Tageszeitung USA Today. "Wie denkt man in eigentlich in Europa über Trump?", fragt der 43-Jährige interessiert, nachdem sich sein Gesprächspartner als Besucher aus Deutschland vorgestellt hat. Dann sagt er, bevor er wieder seinen Dienst antritt:

Weißt Du, irgendetwas ist anders. Als Afroamerikaner war ich von Obama enttäuscht und die Clinton ging gar nicht. Wenn Du mich fragst, Obama hat nichts getan, wir Schwarze haben es heute genauso schwer wie vor seinem Amtsantritt. Was aber mit Trump passiert, ich sage Dir eines, die Menschen zögern heute, ihre politische Meinung zu äußern. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, vielleicht nur Verunsicherung. Wie dem auch sei, hier in Cleveland bist Du am richtigen Ort, am Puls Amerikas, hier spürst Du, wie das Land tickt, nicht am Rodeo Drive in LA oder am Times Square in New York City. Cleveland hat Geschichte geschrieben, amerikanische Geschichte.

Foto: Ramon Schack

Ein Spaziergang an den Ufern des Lake Erie, dessen Fläche größer ist, als die mancher Staaten in Europas. Sicherlich wäre es vermessen, in diesem Sommer 2017 Betrachtungen über Aufstieg und Niedergang, über den "rise and decline" des amerikanischen Imperiums anzustellen. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte die Neue Welt noch in der Erfüllung einer Voraussage von Alexis de Tocquevilles, jenes französischen Historikers und Diplomaten, der vor 180 Jahren die Demokratie in Amerika analysierte und das Hochkommen neuer Führungsmächte - USA und Russland - angekündigt hatte.

Mit dem Untergang der Sowjetunion war diese Bipolarität Geschichte. Andere Machtzentren melden ihre historischen Ansprüche an. Ein Reisebus entlädt seine Fahrgäste, Tagestouristen aus dem ländlichen Ohio, Mennoniten, wie am Kleidungsstil zu erkennen, die über die Weiten des Gewässers blicken, in Richtung Norden, in Richtung Kanada.

"Die Menschen in den USA können sich im politischen und im persönlichen Leben nur so frei bewegen, weil sie so intensiv in ihre Religiosität eingebunden sind", schrieb der schon zitierte Tocqueville 1835, nachdem er sich zuvor beeindruckt über die ungehemmte Entfaltung des Individuums in Amerika geäußert hatte. Die Tagestouristen haben sich inzwischen zu einem Gruppenfoto versammelt, vor der Skyline von Cleveland - und stimmen dann die Hymne an: "God bless America!"


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[1] https://www.youtube.com/watch?v=VtW8RkI3-c4
[2] https://play.google.com/music/preview/Tuyfjbvs6r4bqfcj6wn3kunwffe?lyrics=1&utm_source=google&utm_medium=search&utm_campaign=lyrics&pcampaignid=kp-songlyrics
[3] https://www.youtube.com/watch?v=8BhIz-xYGCU