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Am Vorabend einer neuen Jalta-Konferenz

Putin und Biden: Wer nimmt am Verhandlungstisch noch Platz? Bild: Kremlin.ru, CC BY 4.0

Der EU-Außenbeauftragte Borrell wendet sich gegen ein "Jalta 2.0." Verhindern kann er es nicht, weil seine Union kein Gewicht hat

Der russische Präsident Wladimir Putin und sein US-Amtskollege Joseph Biden werden sich am morgigen Dienstag in Genf treffen. In Vorbereitung der Zusammenkunft haben sie bereits telefonisch gegenseitige Sicherheitsgarantien sondiert – über die Köpfe der Führung und der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hinweg.

Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, reagiert darauf im Interview mit der Tageszeitung Die Welt kurz vor Silvester mit Unverständnis [1]:

Wir wollen und dürfen keine unbeteiligten Zuschauer sein, über deren Köpfe hinweg entschieden wird. Da geht es um uns. Darüber können nicht einfach zwei Staaten, also Amerika und Russland, oder die NATO und Russland verhandeln – auch wenn Moskau sich das so vorstellt.

Josep Borrell

Borrell verwies darauf, dass man sich "nicht (mehr) in der Nachkriegszeit" befinde. Es gebe einige europäische Staaten, die keine Nato-Alliierten sind: "Es darf kein Jalta 2 geben. Und wenn, dann muss es ein Helsinki 2 sein."

Die russische Forderung, man müsse zum Status quo vom 27. Mai 1997 zurückfinden – also zu jenem Zeitpunkt, zu dem die Nato-Osterweiterung noch nicht beschlossen war – wies Borrell zurück: Solche Forderungen würden nur von einem Sieger gestellt. Später wurde dieser Halbsatz offenbar aus dem Interview-Text der Welt gestrichen.

Borrell lehnt eine Konferenz zwischen den Russen und den US-Amerikanern nach Vorbild des Gipfels der Siegermächte ab, die vom 4. bis zum 11. Februar 1945 im sowjetischen Badeort Jalta auf der Halbinsel Krim unter der Teilnahme der drei alliierten Staatschefs Winston Churchill, Franklin Roosevelt und Josef Stalin stattfand.

Damals haben die "großen Drei" über die kommende Aufteilung des Nachkriegseuropas in Einflusssphären beraten. Die Tatsache, dass Borrell diese Analogie und Terminologie so leichtfertig anstrengt, zeigt, dass sie für die politischen Eliten des Westens immer noch am verständlichsten sind.

Ob der EU-Chefdiplomat eine neue Jalta-Konferenz will oder nicht – verhindern kann er es keineswegs. Borrell erkannte die Lage wie immer zu spät: Ein Jalta 2.0 könnte auch ohne die EU stattfinden; auch wenn Borrell gegen die Bildung einer europäischen Sicherheitsarchitektur ohne direkte Beteiligung der EU Sturm läuft.

Zur Erinnerung: Moskau hat der Nato und den USA am 15. Dezember Vertragsentwürfe über die Sicherheitsgarantien unterbreitet, deren Text hier in deutscher und russischer Sprache nachzulesen ist [2].

Die Militarisierung der Ukraine durch Staaten der Allianz im Eiltempo und die zunehmende Gefahr einer Eskalation zwischen der Nato und Russland durch Grenzvorfälle waren zwei Hauptgründe für den russischen Vorstoß.

Die Initiative fruchtete: Die Nato wird am Mittwoch dieser Woche Gespräche mit Russland über Sicherheitsgarantien führen. Ähnliche Treffen wird es auch mit den US-Vertretern geben.

Zahlreiche US-Entscheidungen über die Köpfe der EU hinweg

Bei der Einschätzung der eigenen Rolle und des Gewichtes der Europäischen Union verkennt Borrell zwei wichtige Aspekte: Russland kann sich das Recht dazu herausnehmen, mit denjenigen Mächten über Sicherheitsgarantien für sich zu verhandeln, die eine Lösung der bestehenden Probleme herbeizuführen fähig sind. Und es waren die USA, die über die Köpfe der Europäer hinweg in der jüngeren bis jüngsten Vergangenheit mehrfach zentrale Entscheidungen getroffen haben.

Dazu zählt die Entscheidung der USA, sich aus dem Atomabkommen mit dem Iran zurückzuziehen. Die USA traten auch aus dem Vertrag über den offenen Himmel aus, ohne sich vorher mit der EU zu verständigen.

Der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) wurde am 26. Mai 1972 von den USA und der UdSSR unterzeichnet. Am 13. Dezember 2001 verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush, dass die USA einseitig aus dem Vertrag aussteigen.

Das Gleiche gilt auch für den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen oder für den Beschluss, die eigenen Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen. Letzteres wird im Übrigens als Rückschlag für das Ansehen des ganzen Westens in die Geschichtsbücher eingehen, was inzwischen auch eingefleischte deutsche Transatlantiker eingestehen müssen.

Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit, bei dem ein EU-Mitgliedsstaat von einer US-Entscheidung düpiert wurde: Frankreich wurde vor allem von Washington, aber auch von London, bei einem 50-Milliarden-Euro-Jahrhundertgeschäft mit Australien über die Lieferung von zwölf dieselgetriebenen U-Booten wortwörtlich über Nacht ausgebootet.

All das zeigt, dass die EU kein starker unabhängiger Akteur auf der geopolitischen Bühne ist. In den letzten Jahrzehnten hat sie stets im Einklang mit der US-Politik agiert. Um eine UNO-Entscheidung blockieren zu können, muss sich die EU zudem an Frankreich wenden – dem einzigen ständigen Mitglied mit Vetorecht aus dem eigenen Kreis im UN-Sicherheitsrat.

Was kann aber die Europäische Union anbieten, um eine Sicherheitsarchitektur abseits der antirussischen Sanktionspolitik zu schaffen? Hat die EU etwa Einfluss auf die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik? Oder Einfluss darauf, ob diese Waffen womöglich nach Polen gebracht oder auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz verbleiben? Oder konnte die EU die von Polen beschlossene Verdoppelung seiner Streitkräftestärke beeinflussen?

Tatsächlich vermag Brüssel noch nicht einmal auf die Verhängung des Ausnahmezustands an den Grenzen zwischen der EU und Belarus Einfluss nehmen, was zu einem völligen Mangel an Transparenz in Bezug auf die Menschenrechte auf diesem EU-Gebiet führte.

Die Europäische Union hat ihre Chance auf eine belastbare internationale Rolle verspielt, als sie sich der US-amerikanischen Position anschloss, statt auf eigenen, friedlichen Beziehungen zu Russland zu beharren.

Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war dies noch anders. Es waren schließlich die Europäer und allen voran die Deutschen, die Stationierung der Pershing-Raketen der USA auf eigenem Boden heftig kritisierten.

Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981 gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung neuer Pershing-Atomraketen. Bild [3]: Rob Bogaerts/Anefo

Heute scheint das gerade bei den politischen Erben der damaligen Demonstranten völlig vergessen. Daher kann Borrell als Chefdiplomat der EU des Jahres 2022 zu einer möglichen Jalta-Konferenz 2.0 im besten Fall noch als Beobachter eingeladen werden.

EU hat Handlungsspielraum – aber wie setzt sie ihn ein?

Dabei ist es nicht so, dass die EU über kein sicherheitspolitisches Instrumentarium verfüge. So hat die EU neben den – tatsächlich ständig verschärften – Sanktionen auch andere Möglichkeiten, wie etwa die Aufrüstung der Ukraine.

Allein im Dezember 2021 wurden der Ukraine aus der EU 31 Millionen Euro für militärische Logistik und "Cyber-Schutz" zur Verfügung gestellt. Kann Russland dies als Stärkung seiner eigenen Sicherheit betrachten? Keineswegs. Denn die Cyberabwehr ist von einem Cyberangriff nur einen Schritt entfernt.

Borrell hat, ohne es zu wollen, zum Teil Recht mit seiner Formulierung vom "Sieger" in Bezug auf die russischen Forderungen an die USA. Denn der immer noch mächtigste Präsident der Welt, Joseph Biden, würde einen Verlierer nicht mehrfach anrufen.

Und das hat nicht nur mit einem hypothetischen Krieg Russlands gegen die Ukraine zu tun; einem Krieg, den Russland auch ohne Einmarsch gewinnen könnte, sondern allein durch wirtschaftliche Hebel in der Rohstoffpolitik oder durch sein Raketenpotenzial.

Militärisch steht die Ukraine gegenüber Russland auf verlorenem Posten, und jedem ist klar, dass Moskau Entscheidungsgewalt hat. Aber das Entscheidende ist, dass Russland im Verlauf des letzten Jahrzehnts im Bereich der neuesten Militärtechnik einen Sprung gemacht hat, den der Westen vorerst nicht wird einholen können – die Rede ist von Hyperschallraketen und entsprechenden Abwehrsystemen. Russland verfügt also sowohl über Offensiv- wie Defensivmittel, die dem Westen fehlen.

Das macht die Welt keineswegs sicherer. In der Wissenschaft haben wir verstanden, dass unser Wissen über das Geschehen in dem Maße zunimmt, in dem wir uns dem Ereignishorizont annähern. Und die Anzahl der von der Nato durchgeführten Manöver, einschließlich des Einsatzes von Bombern zur Simulation eines Atomschlags gegen Russland, ist bekannt – ebenso wie die Reaktionen Russlands.

Das Hauptthema der Diskussion zwischen Putin und Biden ist aber nicht der Einsatz von Atomwaffen: Es geht um Territorien oder, mit anderen Worten, um Einflusssphären.

Russland will sicherstellen, dass die möglichen Anflugzeiten von Raketen und Flugzeugen aus dem Gebiet der Nato für russische Staatsbürger nicht zu einer unberechenbaren Gefahr werden.

Aber was können die USA und der Westen Russland anbieten? Das Modell einer bürokratischen Pseudo-Demokratie, nach dem das für Russland angeblich nicht bedrohliche Bündnis selbst entscheidet, wen es aufnimmt und wen nicht, wird Russland nicht mehr akzeptieren.

Denn diese Position garantiert keine Sicherheit mehr. Mit dem im Jahr 1991 in Kraft getretenen Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde der Sicherheitspuffer für Moskau nach Osten verlagert, er ist deutlich dünner geworden.

Deshalb ist es gut, dass man wieder über die Einflusssphären redet. Die Erinnerung an Jalta ist wichtig und richtig. Und sie spricht dafür, dass dieses Bild für unser geopolitisches Verständnis immer noch prägend ist. Zumal die Fehler, welche die EU aufgrund ihrer außenpolitischen Kurzsichtigkeit gemacht hat, verheerend sind.

Wer nimmt an der Seite der USA und Russlands Platz?

Die Sanktionen haben der EU einen Schaden von bis zu 290 Milliarden Euro zugefügt. Angesichts der Russlandfeindlichkeit seiner westlichen Nachbarn verbündet sich Russland immer mehr mit China. Man kann täglich neue Fehler der Euro-Kommissare erwarten, die einerseits souverän sein wollen, andererseits aber alles machen, um es eben nicht zu werden.

Jalta 2.0 ist also eine Notwendigkeit. Um Friedensverhandlungen aufzunehmen, haben Churchill, Roosevelt und Stalin 1945 auch nicht bis auf das Ende des Krieges gewartet. Europa brauchte zu dringend Frieden.

Nun haben sich die USA und Russland ihre Plätze bei den anstehenden Beratungen über den Übergang in eine friedlichere Zeit gesichert – um aus der verfahrenen Situation herauszukommen. In den USA werden indes die Stimmen immer lauter [4], die Russlands Sicherheitsinteressen für legitim halten.

Ob Frankreich oder Großbritannien bei den kommenden Beratungen beteiligt sein werden? Oder China? Und wird die Europäische Union doch noch in der Lage sein, als zweite Stimme des Westens zu fungieren und eine eigene Beziehung zu Russland aufzubauen, ohne dass Russland die Möglichkeiten seiner Hyperschallwaffen vorführen müsste, gegen die es in der EU weder Raketenabwehr gibt noch Verträge, die eine Anwendung dieser Waffen regelten?

Irgendwo muss man ja anfangen. Man sollte Gespräche im Rahmen der OSZE und Nato im militärischen Kontext beginnen. Dafür sollte man die Situation gegenseitiger Bedrohungen einer unvoreingenommenen Analyse unterziehen und die Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes für die nächsten zehn bis 20 Jahre abwägen; Planungen also, die beim Brexit oder im Fall der Ukraine-Agenda komplett gefehlt haben. Das Wichtigste ist, dass die EU dabei Kompromiss- und Verhandlungsfähigkeit erlangt.

Die Osterweiterung der Nato stellt eine Bedrohung für Russland dar, auch wenn EU und Nato diese immer noch als einen Rechtsanspruch interpretieren. Beide Akteure sollten aber über den Tellerrand hinausschauen und sich vorstellen, wie die Reaktion Russlands auf diesen Standpunkt aussehen müsste.

Es ist an der Zeit, von politischen Spekulationen zum Gespräch über Fakten überzugehen. Man sollte Militärexperten mehr Gehör verschaffen, dann Wirtschaftsexperten und erst dann Politikern. Leider ist aber immer noch das Gegenteil der Fall, sodass die EU weiterhin Gefahr läuft, eine Entwicklung zu provozieren, deren Fortlauf sie nicht wird kontrollieren können.

Es ist bekannt, dass die Ukraine die Krim von der Wasserversorgung durch Errichtung eines Damms am Bewässerungskanal abgeschnitten hat. Das hat die Landwirtschaft auf der wasserarmen Halbinsel ruiniert und zu großen Unterbrechungen in der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung geführt.

Eigentlich sollte dieser mittelalterliche Akt der Kriegsführung international aufs Schärfste verurteilt werden, allen voran von der Europäischen Union. Geschieht das nicht, dann könnte Russland im Alleingang die Kontrolle über die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung auf der Krim übernehmen.

Oder angesichts der faktischen Aufkündigung der Minsker Vereinbarungen durch die Ukraine die selbst ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkennen.

Zu den unkonventionellen Schritten, die Russland in Ermangelung eines funktionierenden, mit dem Westen ausgehandelten rechtlichen Garantiewesens übergehen kann, könnte auch die Zerstörung der militärischen Infrastrukturen in der Ukraine gehören, die zur Stationierung von für Russland gefährlichen Waffensysteme geeignet sind.

Wird Josep Borrell auch dann Russland Sanktionen androhen? Es ist an der Zeit für die EU, ihre außen- und sicherheitspolitische Infantilität abzulegen und auf dem Boden des politischen Realismus eigene friedenssichernde Politik zu entwickeln. Dann wird man auch ernst genommen und "mit am Tisch" sitzen können.


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https://www.heise.de/-6321266

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/ausland/plus235918076/Josep-Borrell-Nichts-wird-ueber-uns-entschieden-ohne-dass-wir-dabei-sind.html
[2] https://develop.ostinstitut.de/files/de/2021/Ostinstitut_Vertrag_zwischen_der_RF_und_den_USA_%C3%BCber_Sicherheitsgarantien_OL_2_2021.pdf
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Doppelbeschluss#/media/Datei:Massale_vredesdemonstratie_in_Bonn_tegen_de_modernisering_van_kernwapens_in_West,_Bestanddeelnr_253-8611.jpg
[4] https://responsiblestatecraft.org/2021/12/17/hang-up-the-magical-thinking-and-try-strategic-empathy-on-for-size/