Amerika Online 8

Das Leben ist anderswo: Eine Reise auf der antipodischen Route

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Wenn wir im Nu zu den Antipoden und wieder zurück reisen können, was wird dann aus uns werden?"

So oder ähnlich fragt Paul Virilio, der uns, indem er seine Gedanken vom Bunker der zeitgenössischen Medientheorie aus plant, ein Modell zum überdenken der Pragmatik der Geschwindigkeit liefert und auch dafür, wie schnell die Informationstechnologie (IT) unsere Vernetzungs-Werte in entfernte, oftmals abgelegene Länder überträgt und uns zwingt, die räumlichen und zeitlichen Probleme anzugehen, die der digitale Nomadismus und dieses damit einhergehende Gefühl verursacht hat, immer anderswo zu sein.

So oder ähnlich dachte ich mit schwerem Jetlag direkt nach der Rückkehr von einer beinahe zweimonatigen Tour durch Australien und Neuseeland, auf der ich mit den verschiedenen Besuchern meiner Performances Ideen ausgetauscht und ihnen sowohl Alt-X als auch GRAMMATRON vorgestellt hatte. Bei der Ankunft in meinem sehr realen und gewohnten Heim hier in Boulder, Colorado, begann ich mich mit meiner gehirnmüden Desorientierung zu befassen, indem ich auf die beste mir bekannte Weise versuchte, wieder "auf den Boden zu kommen", nämlich durch öffnen der gesamten angehäuften Schneckenpost, unter der sich zu meiner überraschung eine Anthologie kritischer Essays aus dem Jahre 1995 mit dem Titel Critical Issues in Electronic Media fand, herausgegeben von Simon Penny, die einen einleitenden Essay des bekannten australischen Autors/Philosophen McKenzie Wark enthielt.

In seinem Essay "Suck On This, Planet of Noise" (der Titel bezieht sich auf eine populäre On-U-Einspielung) diskutiert Wark, auf welche Weise "die Angst vor der Antipodalität immer mehr zunimmt", was in weiten Teilen der "Globalisierung von Handelsströmen und Kulturströmen, die die Informationstheorie ermöglichte", zu verdanken ist, und wie diese neuere, vielleicht aber intensivere Form des Gefühls, aus dem Gleichgewicht zu sein, "die alten Wunden der Identität wieder öffnet und die Haut an unerwarteten Stellen durchbricht". Wark spricht hier natürlich von der zeitgenössischen australischen Identität und davon, daß das Eindringen der Europäer in jenes Land, das zuerst von den Aborigines besiedelt worden war, zu einer radikalen Inbesitznahme der geistigen Räume führte, die Teil ihrer einheimischen Kultur waren, was sich mit dem Schicksal der Stämme der amerikanischen Ureinwohner vergleichen läßt.

Wark erklärt weiters, daß sich heute ein ähnlicher Prozeß ereignet, wenn auch in einer völlig andersartigen Umgebung: Die Routen der von Satelliten/Netzwerken verbreiteten Info-Popkultur, zumeist von Amerika aus, infiltrieren überall die Köpfe der Australier und schaffen einen Zustand, in dem die Kolonisatoren nun selbst kolonisiert werden (diese neue Form der Kolonisation geschieht nicht durch die Aneignung heiligen Landes, sondern angesichts einer "virtuellen Geographie", wie es Wark ausdrückt, was meiner Meinung nach die kreativen und kognitiven Vernetzungsstrukturen meint, die Information an unser Globales Gehirn übertragen).

Wer kann aber andererseits behaupten, daß sich in diesem Fall die Kolonisierten (und hier beziehe ich mich auf die weißen Australier) auf eine negative Art völlig überrumpelt fühlen? Die Einführung des Kabelfernsehens erlaubt es selbst den anspruchsvollsten Bürgern Australiens, die Folgen der Serie Seinfeld zu empfangen, und was ist denn Seinfeld anderes als der Welt erfolgreichste und langlebigste Situationskomödien-Fernsehserie, in der es "um nichts geht". Von einem völlig anderen Blickwinkel aus gesehen, könnte man diese Vorstellung einer erfolgreichen und langlebigen Comedy-Serie, in der es "um nichts geht", zu einer geistreichen einleitenden Behauptung einer Dissertation ausarbeiten, die sich mit dem Gesamtwerk von, sagen wir, Samuel Beckett beschäftigt (vgl. Warten auf Godot und Texte um Nichts), was mich zu glauben veranlaßt, daß eine Sendung wie Seinfeld zur Goldwährung der zeitgenössischen Datenübertragung werden und als solche von überall ausgestrahlt werden könnte (Weshalb sollten die Amerikaner die einzige Bevölkerung sein, die imstande ist, eine Qualitätssendung "um nichts" zu produzieren?).

Wenn man dies bedenkt, muß man die folgende Frage stellen: Sind die globalen Handels- und Kulturströme, die in der Informationsökonomie an Geschwindigkeit gewinnen, so automatisiert, daß das, was kursiert, wieder zurückkommt (nennen wir es den "Boomerang-Effekt") und sich die amerikanischen Zuseher bald genüßlich an der nächsten reichlichen Ernte an Kulturprodukten laben werden, die aus Sydney stammt? Vielleicht sollten wir aber erst urteilen, wenn wir die Gelegenheit gehabt haben werden, die für die Sommerolympiade 2000 in Aussicht gestellte Techno-Theatralik zu schlucken, die die Hafenstadt schließlich ein für allemal auf die global gestaltete, virtuelle Landkarte bringen wird. Eine weitere Frage, die wir uns in der nördlichen Hemisphäre während dieses bedeutenden internationalen Events natürlich werden stellen müssen:

"Wessen Sommer ist das überhaupt?"

Und doch fordert die finstere Ironie dieser historischen Route, die das weiße Australien in die unbequeme Position bringt, selbst Kolonisierter zu sein, viele seiner engagiertesten Künstler dazu heraus, einen Raum des Widerstands ausfindig zu machen, in dem ihre Arbeit in eben jene "Kulturströme" eingreifen kann, mit denen die IT ihre eigenen, sehr realen Heime attackiert. Viele dieser Räume des Widerstands finden sich heute im WWW und lenken langsam die Aufmerksamkeit von Netzreisenden auf der ganzen Welt auf sich, trotz der Tatsache, daß so viele der Anwender, die diese strategischen Sites entwickeln, es hassen, einen großen Teil ihrer kreativen Energie der Codierung von seitenlanger Global Hype Mark-Up Language zu widmen, jenen sinnverdrehten Schattierungen des Cyber-Kauderwelsch, die dieser Tage das Netz zu verseuchen scheinen, egal ob sie von spätberufenen Unternehmern stammen, die Softwareprodukte verkaufen, oder von frühreifen net.artists, die verzweifelt nach Aufmerksamkeit haschen.

Während ein so großer Teil unserer amerikanischen und europäischen Moden in das Mainstream-Medienvirus einbricht, um ihren Freunden, Angehörigen und potentiellen Sponsoren zu zeigen, daß sie die kurze Aufmerksamkeitsspanne der großen multinationalen Konzerne auf sich zu lenken vermögen ("Seht alle her, ich bin ein Netzkünstler!"), scheint diese Art der einfachen Manipulation in vielen kreativen Gemeinschaften bereits überholt, von denen nicht wenige in ganz Australien zu finden sind, wo die Idee der Entwicklung einer kunstvolleren Netzpraxis trotz der wirtschaftlichen Interessen, die im Netz im Umlauf sind, äußerst wichtig ist.

Natürlich haben einige altgediente Aussie-Netzanwender das institutionalisierte System zu ihrem Vorteil genutzt und sich eine überlebensstrategie zusammengestückelt, die es ihnen ermöglicht, komplexe Arbeiten zu schaffen, in denen all die Widersprüche mitschwingen, die eine aktivistische Netzpraxis mit sich bringt. Eine derzeit entstehende Arbeit, die unsere Vorstellungen von Selbst, Ort und Identität ziemlich auf die Probe stellt, ist Francesca da Rimini's dollspace (die bald in SMEAR OF ROSES umbenannt werden soll), eine explosive multimediale narrative Performance, die auf wunderbare Weise die Figur des Autors als pseudo-autobiographische, im Entstehen befindliche Arbeit zeigt, deren Netzpraxis dazu einlädt, uns in den Leseprozeß selbst "einzulesen", während die IT unsere Gewohnheit, einer linearen Textualität zu folgen, in etwas Dynamischeres verwandelt.

Diese sich abzeichnende Lesedynamik, die den sinnstiftenden Prozeß beschleunigt und fragmentiert, wurde am besten in Rob Wittigs Buch mit dem Titel Invisible Rendezvous (Wesleyan University Press, 1994) beschrieben, in dem - in einem historischen Manifest, das die Entwicklung der elektronischen Mailbox IN.S.OMNIA in Seattle in den frühen Achtzigern nachzeichnet - einer der "Unsichtbaren" (wie die Kollaborateure genannt wurden) eine neue Form der Aufmerksamkeit beschreibt, deren Eigenschaften unter anderem umfassen:

"Respektlosigkeit, schnelle Entscheidungsfindung, die Fähigkeit, das Ganze im Fragment zu erkennen, und eine große Vorliebe für Gegenüberstellungen", was, wie der Autor anmerkt, "keine schlechte Liste an Fähigkeiten macht, wenn jemand tagtäglich mit einem überwältigenden Ansturm an Information konfrontiert ist".

Da Riminis dollspace, ein gerade entstehendes Werk in Zusammenarbeit mit den Künstlern Ricardo Dominguez und Michael Grimm, befaßt sich mit dieser neuen Form von Aufmerksamkeit, indem es das pseudo-autobiographische Auge/"Ich" sowohl des Zusehers (das Auge) als auch des fiktionalisierten Nach-Selbst (das "Ich") vorführt, während es gleichzeitig das Bedürfnis der Künstlerin überschreitet, sich auf die Hypes generierende Medienmaschine einzulassen, die im Netz arbeitenden Künstlern flimmernde Aufmerksamkeitsriffs verleihen kann, die irgendeine Form von Kontakt mit dem Logos der multinationalen Konzerne suchen.

In dollspace zeigt sich die Revolution of The Word (um den Techno-Schamanen Jerome Rothenberg zu zitieren), die jetzt in ein performatives Gemisch textgesteuerter Hypermedien-Typographie digitalisiert und gemorpht ist, mehr als inneres Vergessen, das auf organische Weise ihre externen Links zu egal welchem Netz baut, das gerade um die pseudo-autobiographische, im Entstehen befindliche Arbeit herum, die immer am Werden ist, Form annimmt - das ist kein geplanter Angriff, der sich in einer Phantasiewelt abspielt, in der die bösen Info-Fieslinge dem emporgekommenen Künstler-Jungchen jene Liebe und Aufmerksamkeit verweigern, von der es ganz sicher annimmt, daß es sie verdient ­ was nicht sehr wahrscheinlich ist.

Tatsächlich sind die River-Boys (wie sie in dollspace heißen) dazu da, um benutzt, mißbraucht und von der Ziehmutter (Erde?) systematisch ermordet zu werden, der sie nicht gehorchen wollen. Indem dollspace eine provisorische autonome Zone einrichtet, will es nicht auf die Rücktaste drücken, um seine eigenen Druckfehler auszubessern und damit seinen äußerst gut beworbenen Kunstterroristen-Angriff zu verschönern; statt dessen leitet es ein fiktionalisiertes linguistisches Bewußtsein in die Netzpraxis weiter und morpht das Erzählverhalten in eine multidisziplinäre Interzone realer interventionistischer Aktion. In einem E-Mail, das ich vor kurzem von da Rimini erhielt, schreibt sie:

"nach der berauschenden zeit der vns-matrix und all unserer ironischen werbung und vapourware kann ich meine arbeit einfach nicht mehr vorwärtspushen ... ich denke ich habe aufgehört die mainstream-werbung ernst zu nehmen als ich herausfand wie leicht es ist die medienpaläste mit gutgemachtem hype zu infiltrieren. ich bin also glücklich daß sie irgendwie ziellos im netz herumtreibt und irgendwo auf leser stößt ... ich denke heute daß das teil meiner politischen einstellung ist, nämlich bescheidener zu sein, diskreter, ruhiger in meinen unternehmungen, es gibt so viel hype überall bei dem ich nicht mitmachen will ... ich verwende diese energie lieber auf meine diversen kreativen Sachen und dazu sie zu perfektionieren".

Es versteht sich, daß nicht einmal die Künstlerin selbst immer die völlige Kontrolle darüber hat, was mit ihrer Arbeit passiert, wenn sie einmal im Netz zu finden ist (diese Kolumne ist nur ein Beispiel für eine harmlose Form von Hype-Linkage, von der die Künstlerin nichts weiß).

Aber diese sich abzeichnende Anti-Hype-Einstellung von Untergrundaktivisten ist besonders interessant, wenn man sie mit einigen jüngeren, karriereorientierten amerikanischen/europäischen Künstler-Hackern vergleicht, die sich besonders anstrengen, in ihren von Ghostwritern verfaßten, mittels E-Mail verbreiteten Presseaussendungen zu suggerieren, daß ihre Mainstream-Intervention tatsächlich einen Frontalangriff in der Form eines "Kunstterrorismus" darstellt ("Senden Sie ein E-Mail an web.artist@wannabe-yuppie.org für nähere Informationen!"). Natürlich weiß man aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, wo diese kleinen Widerstandsnester oder die verschiedenen Anwender und ihre Sites zu finden sind, weil sie nicht Teil des institutionellen Festivalzirkus sind, für den die meisten der auffallenderen und daher zum äußersten entschlossenen Netzpraktiker leben und sterben.

Vergangenen März wurde dollspace anläßlich des Telstra Adelaide Festivals als Teil des/der Events/Ausstellung FOLDBACK einem Livepublikum vorgestellt. Gleichzeitig war dies die Feier zum zehnjährigen Jubiläum des wegweisenden Australian Network for Art and Technology (ANAT), dessen erste Geschäftsleiterin da Rimini war. Das 1998 Adelaide Festival, bei dem Künstler wie Jenny Holzer, Joseph Kosuth und ich Vorträge hielten, war das letzte Event seiner Art in diesem Jahrhundert (das Festival findet nur jedes gerade Jahr statt) und wartete mit einem intensiven Veranstaltungsprogramm auf, das zum Bersten voll war mit experimentellem Theater, Musik und Tanz. Außerdem gab es eine Woche der Autoren und eine anschließende Woche der bildenden Künste. Dieses Jahr wurde erstmals ein ernsthafter Versuch unternommen, die neuesten Online- und CD-ROM-Projekte in den Festivalmix zu integrieren, so daß Web-Künstler wie da Rimini, Autoren wie Linda Carroli und Josephine Wilson vom Electronic Writing and Research Ensemble und die prozeßorientierte Web-Gruppe _nervous objects_ unter demselben Banner finanziert wurden wie Holzers Lustmord, eine großartige Ausstellung von Susan Hiller in der Experimental Art Foundation und Heiner Goebbels wunderbar spielerischer Wurf eines Musiktheaters mit dem Titel BLACK ON WHITE.

Wie im Katalog zu FOLDBACK zu lesen war:

"FOLDBACK versucht die Annahme zu zerstreuen, daß Medienkunst nur etwas im Kontext der bildenden Künste zu suchen hätte, indem es Verbindungen zwischen den oftmals divergierenden Kulturen der Kunst, des Schreibens und des Klangs herstellt."

Das Marathon-Event FOLDBACK, das am zentralen Sonntag zwischen der Woche der Autoren und der Woche der bildenden Künste im Ngapartji Multimedia Centre am östlichen Stadtrand stattfand, vermengte Liveperformances mit Streaming-Audio und CD-ROM-Playback. Der Cyberpoet Komninos Zervos, dessen 3D-Lyrik mich an eine Art clevere Zaum-Typographie erinnert, die in die sich immer noch in Bau befindlichen Vorstädte der Elektrosphäre disseminiert wird, unterhielt das Publikum mit verschiedenen Verkörperungen von Leuten von der Straße aus London, in die er sich automatisch "einklickte", sobald er auf verschiedene Hyperlinks "geklickt" hatte, die sich durch seine Underground-Cyberpoetry-CD-ROM schlängeln. Währenddessen packte der Musiker Stevie Wishart eine elektrisch verstärkte Drehleier aus und spielte ein faszinierendes Set mittelalterlicher ars electronica, das mit einem Streaming-Hintergrundklang vermengt war, der über Real Audio aus Sydney hereinkam. Die Vorstellung endete mit einigen Sets elektronischer sound.art, die einige der Künstler der Dislocations-CD (Zonar Recordings) zum Besten gaben, inklusive Michael Hoggs 40minütiges "quadrophonisches" Set hypnotisierender Musik, das speziell für vier Lautsprecher komponiert wurde. Wenn man bedenkt, wieviel Technologie vonnöten ist, um die Mannigfaltigkeit der digitalen Diskurse zu implementieren, die während dieses neunstündigen Marathon-Events vorgestellt wurden, gereichte die relative Leichtigkeit, mit der sich das Programm abspulte, einem beinahe perfekten Tag der Medienübergänge.

Um erneut einen rekontextualisierten Virilio zu zitieren, zeigen uns konzeptuelle Netzpraktiken wie jene, die anläßlich von FOLDBACK zu sehen waren, wie sich "Unterschiede zwischen Positionen zu verwischen beginnen und in einer unvermeidbaren Fusion und Konfusion resultieren" und wie "das architektonische Element, objektiver Grenzen entbunden, in einem elektronischen äther zu gleiten, zu treiben beginnt, der keine räumlichen Dimensionen besitzt, jedoch in die einzige Zeitlichkeit einer momentanen Diffusion eingeschrieben ist". Während wir unseren Verstand in dieser "momentanen Diffusion" entschwinden sehen, kann man sich der Frage nicht verwehren, ob wir in das Reich des Heiligen, des Weltlichen oder in irgendeine unbändige Verbindung beider eingetreten sind, über die wir nicht die geringste Kontrolle besitzen.

Übersetzung: Thomas Hartl